Fiktive Geschichten

#1 von petias , 03.12.2021 00:48

Brüder

Der gelbe Kastenwagen kam rückwärts die schmale Straße hochgekrochen. Weil es hier oben keinen geeigneten Platz zum Wenden gibt, fuhr die Postbotin die fünfzig Meter von der nächsten Seitenstraße rückwärts hoch, um auch die vier Adressen an diesem Ende der Welt mit Sendungen zu versorgen. Meistens kam die Post gegen halb zwölf Uhr. Für Peter war das das Signal, die Arbeit am Computer zu beenden und das Mittagessen zuzubereiten. Er lugte möglichst unauffällig aus dem Fenster, um festzustellen, ob Heidi auch was für ihn dabeihatte. Trotz Internet und Mobiltelefon, Postkarten und Briefe spielten noch eine wichtige Rolle in Peters Leben. Oft hatte er auch einen Brief abzugeben, den Heidi gerne annahm und ihm dadurch den Gang zum zwei Kilometer entfernten Postkasten ersparte.
Heidi winkte Peter mit einem Brief in der Hand zu, bevor sie ihn in durch den Schlitz des Postkastens bugsierte.
Bis Peter beim Gartentor ankam, war der Postwagen bereits wieder verschwunden. Bruder Paul hatte geschrieben.

*****

Eine gute Woche zuvor, am frühen Nachmittag, Peter war bei der Gartenarbeit, kam völlig unerwartet ein Motorrad den Hügel hochgetuckert. Eine schwere Maschine, die die Steigung souverän und ohne aufheulenden Motor bewältigen konnte. Statt umzudrehen und wieder den Hügel hinunterzufahren, wie Peter es erwartet hätte, läutete der Fahrer, weitgehend verhüllt durch die Motorradkleidung, den Helm noch auf dem Kopf, die schwere Schiffsglocke aus Messing, die als Türklingel diente. Verwundert zog Peter die Arbeitshandschuhe aus und lief hinunter zur Gartentüre. Inzwischen hatte der Fahrer den Helm abgenommen. Peter brauchte einen Moment, um den Ankömmling zu erkennen. Es war unzweifelhaft sein Bruder Paul.
Sie hatten nicht mehr viel Kontakt, sein Bruder Paul und er. Jetzt, da die Eltern tot waren, beschränkten sich die Treffen meist auf den Besuch von Beerdigungen, wenn Verwandte und gemeinsame Freunde gestorben waren. Das war erschreckend oft geschehen in der letzten Zeit. Mit zunehmendem Alter schlug der Tod immer häufiger in den Reihen der Nahestehenden zu. Man konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er unaufhaltsam näher rückte. Paul erlebte er bei den Treffen immer im Kreise seiner Familie.

Ruth, seine Frau und er hatten vier Kinder. Tochter Uschi und die Drillinge. Da Uschi nicht als Einzelkind aufwachsen sollte, und das Geschwisterchen nicht so recht kommen wollte, entschloss man sich, etwas nachzuhelfen. Das Ergebnis: Drillinge! Als sechsköpfige Familie, manchmal mit Au-pair-Mädchen oder mit Freunden der Kinder unterwegs, war das Familienauto immer ein Kleinbus gewesen. Auf einem Motorrad hatte Peter seinen Bruder noch nie zuvor gesehen.

Paul war Arzt geworden. Der Wunsch dazu entstand bei seinem USA- Aufenthalt als Austauschschüler. Er absolvierte die letzte Klasse der High-School in Denver, Colorado. Der Vater der Gastfamilie war Arzt gewesen. Bis zum heutigen Tag besuchten sich Mitglieder seiner ehemaligen Gastfamilie und Mitglieder seiner eigenen Familie gegenseitig. Der Kontakt war nie abgerissen.
Eigentlich hätte er ja Vaters Apotheke übernehmen sollen, nachdem Peter, der Ältere in dieser Hinsicht ein Totalausfall war. Der hatte schon sehr früh unmissverständlich klar gemacht, dass er niemals das „Pharmagift“, wie er es nannte, vertreiben würde. Deshalb sollte Paul die Apotheke übernehmen. Paul ließ sich dann dazu überreden,

Pharmazie zu studieren. Aber nur als Warte- und Ersatzstudium für das Medizinstudium, in das er sich einzuklagen versuchte. Kurz vor Ende des Pharmaziestudiums hatte er Erfolg damit und schloss nahtlos das Medizinstudium an. Papa, der Apotheker, sah seine Felle davon schwimmen, und bot Pauls Freundin Ruth, einer Kommilitonin von Paul, die Übernahme der Apotheke an. Mit diesem Trick, Ruth und Paul heirateten bald darauf, blieb die Apotheke doch noch in der Familie. Paul hatte seine Praxis oberhalb der Apotheke eingerichtet, da wo früher die Familie gewohnt hatte. Ruth leitete die Apotheke.

Die Synergieeffekte waren nicht zu leugnen. Paul und Ruth hatten für sich und die Kinder in der Nähe ein großes, luxuriöses Haus gebaut. Es gab sogar eine Einliegerwohnung für das Au-pair-Mädchen. Die Apotheke, der Arztberuf, die Kinder, es gab immer viel zu tun. Ab und an gönnte sich die Familie Reisen zu allen interessanten Teilen dieser Erde. Zeit für sich selbst blieb da selten.

„Hallo Paul!“
Peter öffnete das Gartentor und hielt seinem Bruder die Hand zur Begrüßung hin.
„Hast du die Harley von Deiner letzten Amerikareise mitgebracht?“

Paul lachte. Er erwiderte den Händedruck. „Nein, die habe ich hier besorgt. Ich dachte mir, wenn nicht jetzt, wann dann?“
Peter stimmte ihm zu.
„Störe ich Dich bei der Gartenarbeit? Ich war gerade auf Tour und dachte ich schau mal bei dir vorbei. Wenn ich ungelegen komme, bleib ich nicht lange.“
„Das wäre ja noch schöner. Die Gartenarbeit läuft nicht weg. Ich freu mich, dass du da bist. Komm rein, und lege erst mal Deine Montur ab.“
Die beiden Männer gingen ins Haus. Peter führte Paul in das Gästezimmer.

„Hier kannst du auch schlafen, wenn du über Nacht bleiben möchtest. Komm runter, wenn du fertig bist.“
Peter war mit 18 von zuhause ausgezogen. Vater meinte, er solle doch wenigstens bis zum Abi bleiben, aber Peter musste weg. Irgendwie hatte er es geschafft, in einer WG in Rosenheim zu wohnen und sich seinen Lebensunterhalt durch Jobben zu verdienen.

Prompt, Vater hatte es prophezeit, fiel er durch die Abiturprüfung. Im zweiten Anlauf klappte es dann und Peter zog nach Regensburg, um Soziologie und Politologie zu studieren. Er lebte außerhalb der Stadt in einer Landkommune. Sie bauten Gemüse an, hielten Hühner und Milchschafe, machten Schafskäse, backten Brot. Ab und an fuhren sie auch in die Stadt, um zu studieren. Damals war das noch etwas lockerer als heute. Nach dem Diplom machte Peter eine Landwirtschaftslehre. Die wollte er eigentlich bei Bauer Rödelberger im Schwarzwald absolvieren. Der betrieb seinen Biohof mit Pferd und Ochsengespannen und bildete Lehrlinge aus. Aber er wollte dreihundert Mark im Monat dafür von den Auszubildenden, das konnte Peter sich nicht leisten. So machte er die Lehre bei einem konventionellen Betrieb in der Nähe von Regensburg. Danach ging er eine Weile nach Neuseeland und arbeitet auf einer
großen Rinder- und Schaffarm. Der Farmer kannte einen Minister in der Regierung und hatte versprochen, ihm mit dessen Hilfe die Einwanderung zu ermöglichen. Aber, völlig unerwartet, verlor seine Partei die Wahlen, und der Exminister hatte keinen Einfluss mehr. Peter kam zurück nach Deutschland und nahm an einer Umschulungsmaßnahme des Arbeitsamtes zum EDV-Spezialisten teil. Dort lernte er eine Frau kennen, sie heirateten und bekamen zwei Kinder. Die Pläne der Studienzeit und der Zeit in Neuseeland lagen weitgehend
auf Eis. Es gab nur noch Arbeit und Familie. Der ständige Streit um eine ökologische Lebensweise zermürbte die Beziehung. Was gegessen wurde, bestimmte die Hausfrau.

Als sie ihn dann verließ, war Peter die nächsten fünfzehn Jahre alleinerziehender Vater und selbstständiger Softwareentwickler. Nur durch die Selbstständigkeit war es ihm möglich, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen.
Viel Geld blieb nie übrig. Als die Kinder aus dem Haus waren, zog er aufs Land und kehrte zurück zu den Ideen seiner Jugend.

Paul kam die Treppe herunter. „Das Haus hat schon ein paar Jährchen auf dem Buckel“, witzelte er auf die Art, wie ihr Vater es immer getan hatte.
„Ja, kann man so sagen. Das Haus ist recht genau 100 Jahre älter als ich. Es wurde, wenn ich die Eingravierung über der Haustüre richtig deute, 1852 erbaut.“
„Kann ich mal das Badezimmer benutzen?“, fragte Paul.
„Ich zeige es dir, ich muss Dich in die Geheimnisse meiner Komposttoilette einweihen.“

Die Art, wie Peter lebte, war für Deutschland im Jahre 2017 doch recht ungewöhnlich. In vielerlei Hinsicht glich sie dem Leben, das er in seiner Studentenzeit in der Landkommune geführt hatte. Aber es gab auch eine Reihe von Unterschieden. Tiere gab es keine auf seinem Anwesen. Er war zum Veganer geworden, aß demnach kein Fleisch von Schlachttieren und keine Milchprodukte. Tierhaltung war nach seiner Überzeugung Sklaverei und stand dem Menschen aus ethischen Gründen nicht zu. Der Strom kam weitgehend von den Solarpaneelen auf dem Dach und dem Kleinwindrad im Garten.
Geheizt wurde mit Holz, das auf seinem eineinhalb Hektar Land gewonnen wurde. Der Rest wurde mit Hilfe eines Sammelscheins des Forstamtes aus dem nahen Wald beschafft. Gemüse und Obst kamen aus dem Garten. Nur wenige Nahrungsmittel wie Öl und einige Sämereien wurden zugekauft.

Peter führte Paul durch sein Grundstück, zeigte ihm Gewächshaus, Hochbeete und Hügelbeetgarten, den Lagerfeuer- Pavillon, das Baumhaus mit transparentem Dach, den Kräutergarten und was es sonst so zu sehen gab.

Am Abend machten sie ein Lagerfeuer im Pavillon und kochten im gusseisernen Kochtopf, was der Garten an Köstlichkeiten zu bieten hatte.
Die Nacht zog herauf. Der vergleichsweise milde Oktoberabend gab den Blick frei auf den Sternenhimmel, der sich hier auf dem Land, ohne die städtische Lichterflut, auf eine sehr intensive Art darbot. Sie saßen eine Weile schweigend da und lauschten dem Prasseln des Feuers und dem Zirpen der Grillen.
Paul unterbrach das Schweigen: „Denkst du, mit Diener Lebensweise kannst du sicher sein, dass du keine schweren Krankheiten bekommst?“
Peter dachte einen Moment nach.
„Sicher bestimmt nicht. Klar denke ich, dass meine Lebensweise ohne Stress, mit viel Bewegung und gesundem natürlichem Essen sich positiv auf die Gesundheit auswirkt. Das muss ich dir als Arzt ja nicht sagen. Aber das ist Statistik. Wenn du etwas machst, das mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt, und du bist der Eine von Hundert, der scheitert,
dann bedeutet die Statistik überhaupt nichts! Warum fragst du?“

Paul ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen stellte er eine weitere Frage. „Was würdest du tun, wenn du eine tödliche Krankheit hättest und wüsstest, dass du nicht mehr lange zu leben hast?“
Peter war etwas verwirrt. Solche Fragen zu stellen war gar nicht die Art seines Bruders. Aber Peter hatte sich diese Frage selbst auch schon gestellt, angesichts der sich häufenden Todesfälle im Verwandten und Bekanntenkreis.
„Ich denke, ich würde mich fragen, was schief gelaufen ist in meinem Leben, und was ich ändern kann. Vermutlich würde ich meinen Rucksack packen, und mich auf Wanderschaft in Wald und Feld begeben, draußen schlafen, roh essen, was ich finde, und hoffen, dass ich wieder gesund werde, oder, wenn nicht, dabei sterbe. Ein bisschen romanisch und blauäugig, zugegeben. Aber so stell ich mir das vor.“
„Wieso glaubst du, dass dich das gesund machen könnte. Und nicht Medikamente oder eine Operation.“
„Ich wäre ja schon beim Arzt gewesen, sonst wüsste ich nicht, dass ich bald sterben werde. So was sagen einem doch nur Ärzte. Zudem weißt du ja recht gut, dass ich den chemisch bzw. pharmazeutischen Medikamenten sehr skeptisch gegenüberstehe. Ich erwarte mir mehr von einer natürlichen Lebensweise. Ich halte den Wald, möglichst natürlich und wild, für das beste Heilmittel.“
„Das heißt, du würdest – sagen wir mal einem Krebspatienten im Endstadium empfehlen im Wald wandern zu gehen?“
„Das hängt ganz von dem Betreffenden ab. Ich sehe das so: Gesund machen kann dich kein Arzt, kein Heiler, kein Medikament, auch nicht der Wald. Das kannst du nur selbst, mit Hilfe deiner Selbstheilungskräfte. Damit die optimal funktionieren, brauchst du vor allem Hoffnung und Optimismus. Ein Heiler egal ob Arzt, Schamane oder Gesundbeter, ist nur dann für dich eine Hilfe, wenn er dich mitreißen kann, dir zeigt, dass er so sehr von der Wirksamkeit seiner Methode überzeugt ist, dass auch du es bist.“
„Dann würdest du so weit gehen zu sagen, es gibt keine Scharlatane, nur Heiler, die zu dir passen, weil sie dich mitreißen können.
Ein studierter Arzt mit lebenslanger Berufserfahrung, an den du nicht glaubst, kann dir nicht helfen?“
„Wir sprechen von Krankheiten wie Krebs. Wenn ich einen offenen Bruch habe, dann geh ich zum Unfallchirurgen. Das bekommt der,prima hin, wenn es menschenmöglich ist. Das ist mechanisch und überschaubar. Aber bei komplexen inneren Problemen, bei denen auch die Ärzte nur rumprobieren und Statistiken auswerten und Versprechungen von Arzneimittelherstellern glauben, da kommt es vor allem auf die Selbstheilungskräfte an. Und dann gilt: Wer heilt, hat recht! Sag mal Paul, bist du krank?“

Stille. Peter blieb mit dem Holzscheit in der Hand stehen, das er gerade auf das Feuer legen wollte. Sogar die Grillen schienen das Zirpen eingestellt zu haben.

„Bauchspeicheldrüsenkrebs, inoperabel. Er hat schon gestreut. Ich habe vielleicht noch ein halbes Jahr.“
Da Peter nichts sagte, fuhr er fort.
„Bauchspeicheldrüsenkrebs macht zunächst keine Schmerzen. Er ist auch selten. Es gibt keine systematischen Vorsorgeuntersuchungen. Wird er zufällig entdeckt, kann man operieren. Dann gibt es eine 20% Überlebenschance. Hat er schon Metastasen gebildet, kann man nur noch palliativ tätig werden, das heißt die Schmerzen lindern.
Noch habe ich keine Schmerzen. Ich habe ihn zufällig entdeckt über eine Blutuntersuchung. Aber er hat schon gestreut. Wie gesagt, wenn es gut geht, ein halbes Jahr.“

Peter legte das Scheit auf das Feuer. Er setze sich neben seinen Bruder und nahm ihn in den Arm.

„Lass uns das Ding bekämpfen, du gibst doch nicht auf?“
„Ich bin Arzt und Apotheker. Ich kenne die Fakten. Natürlich wissen wir von Spontanheilungen bei bereits als hoffnungslos eingestuften Fällen. Aber nicht bei Bauchspeicheldrüsenkrebs! Da weiß ich von keinem einzigen Fall. Und ich habe recherchiert. Krebs ist nicht gleich Krebs. Da gibt es durchaus Unterschiede.“
„Schulmedizin, Statistik, vergiss es, ändere Dein Leben, brich aus, mach was du schon immer wolltest. Fahr mit Deiner Harley die Route 66 entlang, geh den Jakobsweg nach Santiago de Compostela, bete, wenn Du an Gott glaubst, befasse Dich mit Wiedergeburt, mache was immer du glaubst, dass dir helfen könnte. Du musst nicht überzeugt sein, Hoffnung reicht. Wenn du nicht gesund wirst, dann hast du die letzte Zeit deines Lebens wenigstens intensiv gelebt. Wenn Du willst, komme ich mit. Egal wohin, egal was du tun willst.“

Peter hatte sich in Rage geredet. Die beiden Brüder saßen und redeten bis spät in die Nacht. Sie sprachen von der Zeit, als sie Kinder waren. Sie bewohnten ein gemeinsames Zimmer. Beim Gute Nacht Wünschen fragten sie Mama immer: “derf ma no redn?“ (Dürfen wir noch reden?) Gemeint war das Spinnen von Abenteuergeschichten, in denen sie selbst die Helden waren. So verarbeiteten sie die Erlebnisse des Tages. Die Zeitvorgaben der Mutter wurden zu deren Verwunderung recht penibel eingehalten.

Sie erinnerten sich daran, wie Peter bei einem fingiertem Schwertkampf mit Stöcken seinen Bruder am Auge verletzte, wie Onkel Paul, der Feuerwehrhauptmann, die beiden Buben an der langen Leiter, die am Kirschbaum lehnte, exerzieren ließ und viele weiteren Episoden aus ihrer Kindheit.

Paul schlief nicht im Gästezimmer. Kurz vor dem Morgengrauen zogen sie sich in das Baumhaus zurück, das nur 30m von der Feuerstelle entfernt gelegen war. Nebeneinanderliegend betrachteten sie den Sternenhimmel durch die Plexiglaskuppel. Dabei schliefen sie ein. Den Sonnenaufgang verpassten die beiden müden Schläfer - man kann eben nicht alles haben.

Gegen 10 Uhr morgens weckte Peter seinen Bruder mit der Frage: „Weißt du, warum uns Vater die Namen Peter und Paul gegeben hat?“
„Klar“, antwortet Paul. Weil wir dadurch am selben Tag Namenstag hatten. Unser alter Herr hatte einen feinen Sinn fürs Praktische!“
Sie lachten beide.
Peter konnte sich nicht erinnern, wann er seinem Bruder so nahegestanden hatte, wie bei diesem Besuch. Gegen 15 Uhr schwang sich Paul auf seine Harley Davidson und brauste wieder nach Hause.
Er hatte versprochen sich bald zu melden.

*****

Peter öffnete den Brief. Er bestand nur aus zwei Zeilen.

Zuerst die „Route 66“ dann den „Jakobsweg“
Ich hoffe, Du kommst mit, bis bald, Paul


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zuletzt bearbeitet 03.12.2021 | Top

RE: Fiktive Geschichten

#2 von petias , 21.01.2022 09:42

Wie immer auf der Suche nach einer technischen Lösung

(Peter Matthias 1975)

Vorwort
Wir schreiben das Jahr 2017. Ich habe die Geschichte in einem alten Ordner gefunden. Geschrieben mit Schreibmaschine. Ich fand sie zusammen mit dem Manuskript einer Radioreihe von Carl Amery „Bemerkungen zum ökologischen Materialismus“. Die Sendung wurde Ende 1975 ausgestrahlt. Etwa zu der Zeit, ein Datum befand sich nicht auf den 42 Jahre alten Schreibmaschinenseiten, muss auch die kleine Ökofiktion- Geschichte entstanden sein. Ich kann mich noch gut erinnern. Ich lebte in einer studentischen Landkommune nahe Regensburg in Poikam, Kreis Kelheim. Wir hatten auf ca. 3000 m2 eine Selbstversorgerwirtschaft aufgebaut. Es gab Milchschafe, Bienen, Hühner, ab und zu Enten. Zwei Hunde mehrere Katzen und vor allem einen großen Gemüsegarten. Da wuchsen zwei Walnussbäume. Obst und Gras auch für Heu holten wir uns von außerhalb - aus Bauernobstgärten und Wegrändern z.B. Wir stellten Schafskäse und Butter her, Sauermilch und Quark. Wir machten Obstessig, buken Brot. Von außen kamen vor allem Getreide, Milch vom Nachbarn, Backferment, Lab...
Es gab einen sehr hohen Grad der Selbstversorgung.
Der Grund für den Aufbau einer solchen lag in der Ölkrise von 1970 begründet. Hier war mir zum ersten Mal die Abhängigkeit bewusst geworden, in der wir lebten. Dem wollte ich etwas entgegensetzen - praktisch und politisch.
Zu der Zeit veranstalteten wir Gesprächskreise in Poikam, zu denen auch Leute von außen kamen, wie Freunde aus anderen Gruppen, zwei Doktoranden der Biologie, Kommilitonen. Als Gesprächsgrundlage für eines dieser Treffen schrieb ich diese Geschichte.

Ich finde es sehr interessant, das nach 42 Jahren wieder zu lesen. Ein paar Dinge würde ich heute etwas anders akzentuieren. Tierhaltung z.B. Die Zeit hat einige der Zahlen überholt. Aber auch das gibt Aufschluss über meine Befindlichkeit von damals. Im Grunde hat sich nicht viel verändert. Die Probleme und die Ansätze für ihre Lösung sind in meinem Bewusstsein weitgehend gleich geblieben.

In der Zeit dazwischen fand das statt, was man so gemeinhin „Leben“ nennt: bürgerlicher Beruf, Heirat, Kinder, Scheidung, alleinerziehender Vater, gescheiterte Beziehungsversuche.
Erst jetzt, mit 65, Ende des Jobs, kleine Rente, kleines, gerade so bewohnbares Haus mit 1ha Land, geeignet zur Selbstversorgung, als materielle Ausbeute von 40 Jahren Berufsleben, nehme ich den Faden wieder auf. Fast, als wäre nichts geschehen.

Die Geschichte von 1975:

5. Januar 2059
Vor zwei Tagen begann der Bordcomputer, mich aus dem Tiefschlaf zu erwecken. Jetzt bin ich wieder im Vollbesitz meiner Kräfte. Wie ich dem Chronometer entnehme, bin ich seit genau 10 Jahren und 11 Tagen unterwegs.
Seit drei Monaten ist das Ionentriebwerk mit dem Bremsvorgang beschäftigt. Das Raumschiff fällt nur noch mit 49000 km/sec auf die nun schon alles beherrschende rote Sonne zu, dem einzigen Fixstern des Planeten „Last Hope“. So genannt, weil es im Jahre 2023 die letzte Hoffnung einer kleinen Gruppe von Naturaposteln war, die sich gegen den technischen Fortschritt stellte. Einen „Fortschritt“, der zu diesem Zeitpunkt gerade begann die Atmosphäre durch Schadstoffe und Abwärme aufzulösen, obwohl sie die Voraussetzung jeglichen Lebens auf der Erde darstellt. Sollte es die letzte Hoffnung der gesamten Menschheit werden?

Hier ein kurzer, chronologischer Abriss meiner Mission:

1980:
An vielen Stellen der Erde haben sich, als Ausdruck eines zunehmenden Fortschrittsunbehagens kleine Gruppen gebildet mit dem Ziel, Alternativen zu gegenwärtig üblichen Organisation der Bedürfnisse zu entwickeln. Es blieben jedoch die einen in nostalgischer Romantik des Landlebens stecken, die anderen konnten das Stadium von Theoriezirkeln nicht überwinden. Die wenigen Gruppen, die hinsichtlich alternativer Vorstellungen in die Nähe eines geschlossenen Ganzen kamen, hatten wenig publizistisches Geschick, und da sie zudem nicht gemeinschaftlich vorgingen, konnten sie nicht in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit durchstoßen und zogen sich in unwegsame Gegenden zurück.

2000:
Ein 1993 entbrannter Atomkrieg (zwischen Nato, Warschauer Pakt und der Peking-Liga zur Zerschlagung des Imperialismus) auf dem Territorium der sog. Entwicklungsländer und der VR China, reduzierten die Menschheit auf ca. 600 Millionen. (Hauptsächlich US-Amerikaner, Kanadier, Europäer und Sowjetrussen.) Der Krieg befreite die hochentwickelten Industrienationen von dem wachsenden Druck der Entwicklungsländer, die ihnen die Früchte ihres Fleisses neideten, und führte zur Bildung einer Weltregierung. Sie arbeitete im Rahmen eines Einheitssystems unter dem Slogan: “Bequemlichkeit und Massenkonsum für alle, leistungsgerechte Verteilung.“ Englisch wurde als einheitliche Amtssprache eingeführt.

2010:
Infolge von Schadstoffemissionen, Abwärme und Radioaktivität (der Artenreichtum der Lebewesen war bereits stark zurückgegangen, ) stand der Zusammenbruch der Biosphäre für die nächsten Jahre bevor. Deshalb wurden alle Energien in die Produktion von umweltautarken Kunststoffkuppeln gesteckt, in denen sog. Umweltgeneratoren lebensmögliche Bedingungen schufen. So wurde z.B. Atemluft auf chemophysikalischem Wege aus Wasser und Gestein hergestellt, die Nahrungsmittelproduktion erfolgte z.B. unter künstlicher Photosynthese im Labor.

2023:
Die Regierung beendet eine starke Protestbewegung der Bevölkerung durch das Angebot, Ausreisewillige auf einen Planeten mit erdähnlichen Bedingungen zu überführen. Dieses Risiko wollten nur etwa 2000 junge Menschen eingehen. Die meisten schieden ohnedies aus, da ihre Abhängigkeit von pharmazeutischen Präparaten (z.B. Krebshemmer) und medizinischen Geräten (z.B. Herzschrittmacher) einen solchen Schritt nicht erlaubten.

2048:
Die zur Reproduktion des Lebens nötigen Ressourcen des Planeten Erde gehen in Kürze endgültig zu Ende. Selbst wenn drastische Sparmaßnahmen ergriffen würden (solche sind aber nicht durchzusetzen, solange Hoffnung auf eine technische Lösung besteht,) würde die durch Krankheit und Fortpflanzungsschwäche auf 200 Millionen geschrumpfte Menschheit nur noch wenige Jahrzehnte überleben können. Wieder einmal wird der Verstand des Menschen, der bisher noch alle Schwierigkeiten überwunden hat, auf’s Äußerste gefordert.

2049:
Ich werde beauftragt, nach dem Verbleib jener 2000 Emigranten zu forschen, und die Möglichkeit einer Übersiedelung der Menschheit nach „Last Hope“ zu berprüfen. Der menschenfreundliche Planet sollte im günstigsten Falle Erde II heißen.

2. März 2059:
Nachdem ich das Ionentriebwerk abgeschaltet und den konventionellen Reaktorantrieb aktiviert hatte, umkreiste ich den Planeten mehrmals. Alle Daten stimmen mit meinen Aufzeichnungen überein. Auch das Raumschiff der 2000 Aussiedler konnte geortet werden. Ich setzte daneben zur Landung auf.

3. März:
Das Raumschiff ist unbeschädigt, jedoch fast völlig deaktiviert. Lediglich ein Sonnenzellen- Notaggregat versorgt das 3-D-Kino, dessen Klimaanlage, Beleuchtung und den Anschluss an die Datenbank. Ich bestieg einen Kombigleiter und machte mich auf die Suche nach den Auswanderern.

In einem weitläufigen Tal in etwa 100km Entfernung vom Raumschiff´entdeckte ich eine weit verstreute Siedlung. Ich landete am Rande eines kleinen Dorfes, des einzigen im Tal. Die Häuser waren hauptsächlich aus Holzstämmen gebaut und mit Stroh gedeckt. Manche Gebäude schienen aus gestampftem Lehm zu bestehen. An einem der Häuser lehnte ein Mann mit schulterlangem Haar und Vollbart. Er war in ein Fell gekleidet und hatte einfach geschnittene, grobe Lederschuhe an. Er deutete mir an, ihm zu folgen und wir schritten auf das größte Haus in der Mitte des kleinen Dorfes zu. Den größten Teil des Gebäudes nahm ein einziger Saal ein, in dem viele Leute auf Holzbänken saßen. Ich wurde erwartet.

Man führte mich in die Mitte des Saales und forderte mich auf, von der Erde und meiner Mission zu berichten. Als ich mit dem Satz geendet hatte, dass ich überprüfen solle, ob dieser
Planet eine 2. Erde für die Menschen werden könnte, fühlte ich mich ernsthaft in Gefahr, gelyncht zu werden.

7. März
Ich wohne nun schon seit 4 Tagen in der 3-Buchen-Kommune. Die aufgebrachte Menge im Gemeinschaftshaus der kleinen Kolonie hatte sich dahingehend geeinigt, dass ich erst mal eine Zeit lang hier wohnen solle, bevor man entscheiden würde, was zu tun sei. Der Gedanke ist für sie schrecklich, dass sich auf ihrem Planeten das Drama von der Erde wiederholen sollte, was aus ihrer Sicht natürlich durchaus verständlich ist.
Ich weiß nun auch schon einiges mehr über die Siedlung. Etwa 150 Leute wohnen in dem Dorf. Sie leben in Familien und kleinen Gruppen zusammen. Am Acker-, Gartenbau und Viehzucht sind alle beteiligt. Einige Gruppen haben sich beim Getreide- und Futterbau zusammengeschlossen. Schmiede, Schreinerei und Wagnerei, ein Versammlungssaal, ein Vorratsspeicher und ein großer Felsenkeller wurden von allen Bewohnern des Tales eingerichtet, die in kleinen Gruppen verstreut im Tal leben. Man hilft sich gegenseitig und lernt voneinander.

Etwa 10 Kilometer von hier entfernt befindet sich ein anderes Dorf, indem sich ein Handwerkssystem herausgebildet hatte. Jan, der Mann, dem ich als erstem begegnet bin, er ist Mitglied der 3-Buchen-Kommune, sieht diese Entwicklung mit Sorge. Doch zunächst will ich kurz meine Gastgeber vorstellen:
Da ist also Jan, er ist 42 (die 10 Jahre Tiefkühlzeit, in denen der Organismus nicht arbeitete, nicht mitgezählt). Er war einer der führenden Leute der Protestbewegung auf der Erde und kümmert sich auch hier darum, dass nicht schief läuft. Kath (39) und Klaus (35) können sich auch noch an die Erde erinnern, aber sie sind froh, dass ihre Eltern Bob(Kath’s Vater, 67) und Hannie (die Mutter von Klaus, 63) sie hierher mitgenommen haben. Bob und Hannie leben auch hier in 3-Buchen. Juan(35), Gianna(33) und Laura(37) kamen mit Miss Nellie Horse nach Last Hope, einer ehemals reichen Frau, die 15 Kinder adoptiert hatte und alle auf die große Reise mitnahm. Sie war schon in den ersten Jahren nach der Ankunft gestorben.

Karla(12) und Buchfink(17) sind Kinder von Kath, Karla’s Vater ist wohl Klaus. Bei Buchfink ist das unbestimmt. In Frage kommen Klaus und Juan. Luchs und Woody (beide 12) sind die Kinder von Gianna, Laura und Juan. Welches der beiden Mädchen von welcher der beiden Frauen ist, konnte ich nicht herausfinden. Zwischen ihnen ist nur ein Altersunterschied von 3 Tagen und sie sind beide Juan wie aus dem Gesicht geschnitten. Alles in Allem leben also 12 Menschen in der 3-Buchen-Kommune. Dazu kommen 15 Milchschafe, 3 Ziegen, 3 Hunde und einige Katzen. Ihren Hof haben sie nach und nach aufgebaut. Die Gebäude bestehen überwiegend aus dem Holz der Umgebung.
Nur die Schmiede, der Kamin im Wohnhaus, der Keramikbrennofen und der Backofen sind aus Stein. Den Stall mussten sie einmal abreißen und an anderer Stelle wieder aufbauen. Er war, so ermittelte Mareike aus einer Nachbargruppe mit ihrer Wünschelrute, über einer Reizzone errichtet, die das Vieh nicht gedeihen ließ. Geheizt wird mit Holz.

Das Essen war in den ersten Jahren knapp. Aber jetzt haben sie reichlich Obst, Gemüse, Getreide, Butter, Quark, Käse, Milch, Brot und was man sonst noch so alles mit einfachen Mitteln erzeugen kann. Sie kleiden sich in einfache Stoffe, die sie aus Pflanzenfasern selber herstellen und mit Naturstoffen färben oder in Leder, das sie von ihren Tieren bekommen und mit Holzasche und Eichenrinde gerben.

Das Wohnhaus hat 6 Zimmer. Eine große Küche, eine Speisekammer, in der die Milch verarbeitet wird, Lebensmittel aufbewahrt sind und das Gemüse für den Winter eingelagert wird. Eine Stube, in der miteinander gegessen, gesponnen, gewebt wird und was sonst noch so anfällt. Ein großer Gemeinschaftsraum ist auch da, sowie 2 Zimmer in die man gehen kann, wenn man in den anderen Räumen nicht sein will. Was mir am meisten auffiel, war die unglaubliche Gesundheit von Mensch und Tier. Hannie sagte mir dazu:

„Wenn du isst, was du selber anbaust, ohne es vorher kaputt zu machen, wenn du körperlich und geistig arbeitest, dir Ruhe gönnst, dich dem Wetter aussetzt und mit Leuten, die du magst, zusammenlebst, und - wenn du in einer Gegend lebst, wo das Wasser noch trinkbar und die Luft noch atembar ist, dann bist Du eben gesund.“
Das Letzte sagte sie etwas vorwurfsvoll, als ob ich etwas für die Vorgänge auf der Erde könnte.

8. März:
Heute Morgen, als ich nach dem Frühstück (Getreideschrot, Äpfel, Schafsauermilch, Nüsse, Honig) die leere Plastikschachtel meines Verdauungspräparates in den hölzernen Abfalleimer warf, in dem schon ein paar Speisereste waren, nahm sie Buchfink wieder heraus, besah und befühlte sie und gab sie mir zurück:

„Das ist nicht organisch und auch kein Eisen und kein Stein. So Zeug gehört nur ins Raumschiff. Nimm es lieber wieder mit.“

Ich konnte es mir nicht verkneifen, Hanna, die gerade hereinkam, zu fragen, wie das hier mit der Kindererziehung läuft.

„Wir erziehen unsere Kinder nicht“, sagte sie. „wir leben mit ihnen zusammen. Sie sind vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft. Sie lernen von uns und wir von ihnen. Wenn sich jemand unsozial verhält, macht ihm die Gruppe das schon klar. Buchfink hat recht“, sagte Gianna. „Wir achten darauf, dass unserer Welt in Ordnung bleibt. Die unabbaubaren Fremdkörper aus unserer Erdenzeit, die wir in der Anfangsphase benutzen, wandern alle zurück ins Raumschiff.
Dort haben wir eine Art Museum eingerichtet für diese Dinge. Darüber hinaus kann sich jeder, der Sehnsucht nach der Erde bekommt oder versucht, eine unökologische oder unsoziale Technik aufzubauen, im 3-D-Kono mit Hilfe einer überweltigneden Menge eindrucksvoller Informationen eines besserern belehren.“

„O.K.“, sagte ich. „Ich gebe ja zu, dass wir den Umweltschutz vernachlässigt haben, aber die Hauptschuld an der Misere hatte der Atomkrieg!“

„Umweltschutz?“, unterbrach sie mich. „Man braucht die Umwelt nicht zu schützen, wenn man sich nicht aus ihr heraushebt und sich gegen sie wendet. Allein das Wort zeigt schon, dass man sich und die Welt um uns herum als etwas voneinander Getrenntes empfindet, und nicht als eine untrennbare Einheit. Das kann nicht gut gehen. Auch euer Krieg ist nichts anderes als vernachlässigte Umwelt. Ihr kennt den Begriff der Ökologie. Er beschreibt in sich geschlossene, aber trotzdem miteinander verwobene Kreisläufe, die in sich stabil sein müssen. Der grobe Eingriff in eins dieser Systeme bringt es aus dem Gleichgewicht und zertört es schließlich. Das wirkt sich auch auf die anderen verbundenen System aus. Werden sie zertört, etwa durch Spezialisierung (Expertentum), die den Menschen ihren Bezug zu den Dingen raubt, die er benutzt, Weil er über ihre Herkunft und Entstehung nichts mehr weiß, ihm seine Gesundheit, die Erziehung seiner Kinder, die Sorge um seinen Schutz aus der Hand nimmt, oder wenn seinen Kommunikationsfähigkeit zerstört wird durch Isolierung, die die Anpassung an ein kompliziertes Wirtschaftssystem vorschreibt, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis der dadurch nötig gewordenen komplizierte Organisationsapparat zusammenbricht.“

„Aber die Arbeitsteilung, die ja zur Spezialisierung führt, steigert die Produktivität und ermöglicht mehr freie Zeit für die Selbstverwirklichung des Menschen. Nur sie kann Leute vom Produktionsprozess freistellen, so dass sie Meister in Kultur und Kunst werden können.“

„Kunst, wie wir sie durch Meister erfahren, lehen ich ab, und ebenso die Freizeit. Sie ist der Ausgleich und Regenerationsfreiraum für eine unbefriedigende Arbeit. ‚Kunst‘ ist der fragwürdige Ersatz für eigenes schöpferisches Tun. Wir versuchen unser Leben so zu führen, dass schöpferisches Handeln. Arbeit, Freizeit, Befriedigung, Selbstverwirklichung, Kommunikation, Tod, Glück, Krankheit und Wohlergehen in einen einzigen Begriff verschmelzen: Leben! Dies hängt natürlich von der Organsiation der Umstände und dem Bewusstsein ab. Ein Maler, der nur Lust verspürt den ganzen Tag zu malen, tut dies, weil er nichts anderes kann oder sich fürchtet, etwas anders zu tun, das vielleicht unangenehm ist. Er sieht nicht ein, warum er etwas anderes tun soll. Er muss verbissen malen, denn er braucht die Anerkennung als Maler, die für ihn auch finanzielle Versorgung bedeutet. Er hat nichts anderes. In einer nicht arbeitsteiligen Gesellschaft ist sein Verhalten antisozial.“

"Und wie kann in euerer Welt Wissenschaft und Forschung gedeihen?“

„Wissenschaftler im Sinne von Forscher ist jeder von uns. Der eine mehr, der anderer weniger. Jeder macht Versuche, wertet sie aus und zieht daraus Schlüsse und Konsequenzen, aber er stellt sich dabei nicht gegen die Natur. Alles, was Raubbau an den Ressourcen bedeutet, zu denen auch Luft und Wasser gehören, oder was zur Zerstörung des Ökosystems führen würde, muss unterbleiben. Da gibt es einen tief verwurzelte immaginäre Linie, die wir nicht überschreiten. Ebenso vermeiden wir, was ein gesundes soziales Zusammenleben sprengen könnte. Dazu gehört, dass keiner sich von anderen bedienen lässt, oder institutionell Macht ausübt. Ferner, was Mensch und Haustiere verweichlicht, so dass die Gesundheit auf dem Spiel steht, die außer der individuellen auch eine soziale Bedeutung hat. Was krank macht ist falsch! Fortschritt ist, was den beschriebenen Lebensbegriff fördert.“

9. März:
Heute fand ein Fest statt. Gefeiert wurde, dass der Winter zu Ende geht und eine neue Vegetationsperiode beginnt. Es kamen 45 Leute, Kinder und Erwachsenen und brachten alles mit, was der Winter an Vorräten übrig gelassen hatte. Zunächst fand eine Art Sportfest statt, mit Lauf-, Spring-und Kletterspielen. Dadurch soll der Winter aus den müden Gliedern vertrieben werden. Danach wurde ein gewaltiges Festmahl bereitet, das an einer riesigen Tafel im Freien eingenommen wurde. Nach dem Essen machte eine Schale mit erlesenem Hexenkraut die Runde. Dadurch beflügelt, tanzte man am Lagerfeuer bis tief in die Nacht. Dazu wurde gesungen und gespielt, auf Trommeln, Flöten und Saiteninstrumenten. Einige führten kleine Theaterstücke auf. Es wurde Gemüse gebraten und getrunken, erzählt und gelacht. Erst beim Morgengrauen schlief die ganze Meute ein.

11. März
Ich saß morgens mit Jan im Schafstall beim Melken. Ich fragte ihn, ob das Fest etwas mit Religion oder Mystik zu tun hätte.

„Das kann gut sein, für manche sicher“, erzählte er mir. „Wir alle wissen, dass es viel mehr gibt, als unser bisschen Verstand begreifen kann. jeder hat so seine Art, damit umzugehen. Wichtig ist nur, dass man das annimmt und trotzdem aktiv und lebensfroh bleibt. So ein wenig transzendentalen Zauber, egal wie man das bewerten will, braucht jeder von uns irgendwie. Also ist auch was dran oder?“

Jan lächelte mich verschmitzt an.

„Ich fragte mich nur, ob das bei euch durch Normen und Regeln festgelegt ist?“

„Ich würde ein Fest wie dieses einen Brauch nennen, der unserer Art zu Leben entspringt und in die Jahreszeit eingebettet ist. Natürlich haben wir auch feste Regeln. Z.B. unser ökologisches Prinzip!“

„Und wie sieht die Kontrolle aus? Was passiert, wenn in einer anderern Gruppe Entwicklungen stattfinden, die euren Prinzipien widersprechen? Bekämt ihr das überhaupt mit?"

"Einige Leute, wir halten jeden dazu an, reisen immer mal wieder so von Gruppe zu Gruppe, um Erfahrungen auszutauschen und zu lernen. Man frischt Kontakte auf und beobachtet auch neue Entwicklungen. Wenn sich da was besonderes tut, spricht sich das schnell herum. Einmal im Jahr gibt es ein Treffen aller Siedlungen, da kann so etwas angesprochen werden. Bei problematischen Entwicklungen greifen wir ein. So steht das entstehende Handwerksystem im Nachbardorf genau unter Beobachtung! Man sieht kritisch hin, ob da nicht Warenbeziehungen entstehen, die wir für gefährlich halten.“

„Warenbeziehungen?“

„Darunter verstehen wir, wenn Menschen einander als Verteiler oder Käufer von Waren entgegentreten und nicht als Gesamtpersönlichkeiten. Wenn die Kolonie wächst und sich weiter über den Planeten verteilt, werden wir einen Art Kommunikationssystem entwickeln müssen. Einige basteln schon an einer ökologischen und einfach zu produzierneden Kommunikationstechnik.“

„Aber bedeutet das nicht Spezialisierung und Expertentum?“

„Nicht unbedingt! Wir haben ja bereits jetzt eine solche Einrichtung. Unseren Hochofen zur Eisenherstellung. Er arbeitet über den Winter und die Leute, die ihn bedienen, werden turnusmäßig aus den einzelnen Gruppen gestellt. Auf diese Weise lernen alle die Technik handhaben und auch die Kontrolle bleibt gewahrt. Diese Prinzip der stationären Fertigung ist nur in sehr begrenztem Umfang möglich. Aber die Verwendung von Eisen halten wir gegenwärtig noch für einen gesellschaftlichen Vorteil. Wir denken es ist kontrollierbar und verschafft uns Zeit für die angenehmen Dinge und soziales Leben. Aber es gibt auch eine Gruppe, die mit Steinzeittechniken experimentiert. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt.“

Jan hatte die drei Schafe, für die er Bezugsperson war, fertig gemolken, und wir brachten die Milch zum Vorratsraum. Als wir durch die Küche kamen, sah ich Buchfink, den Sohn von Kath, gerade mit Laura schmusen. Ich fragte Jan:

"Haben Eure Kinder keine festen Bezugspersonen?“

„Doch, wenn sie wollen. Sie suchen sich jemand aus. Natürlich erst,wenn sie das können. In aller Regel ist die Mutter die erste Bezugsperson. Nur Luchs und Woody haten zwei Mütter. Das liegt daran, dass die beiden fast gleich alt sind und Gianna und Laura gleichzeitig Milch hatten.“

„Und wie haltet ihr es mit den Erwachsenenbeziehungen?“

„Zwei, die sich mögen und mit einander eine engere Beziehung wollen, die haben eine, was sonst?“

„Und wenn da noch eine anderer Person ist?“

„Das muss sich ja nicht ausschließen!“

„Erfahrungsbemäß bringt das Schwierigkeiten. Gibt es da bei Euch keine?“

„Du meinst Eifersucht? Ja, das gibt es. Das Zusammenleben als Gruppe, setzt natürlich einiges voraus. Z.B. einen Liebesbegriff, der kein Tauschhandel ist. Warenbeziehung, du erinnerst dich? Jeder ist gezwungen eine eigenständige, selbstständige Persönlichkeit zu entwickeln, und sich nicht als ein Anhängsel von jemand anderem zu verstehen. Man muss selbstbewusst und selbstständig sein, um in der Gruppe glücklich zu werden. Aber zugegeben, so perfekt bekommen das auch bei uns nicht alle hin!"

15. April:
Ich habe mich schon recht gut hier eingelebt und fühle mich wohl. Ich bräuchte zwar sicher Jahre und ständig Hilfe, um mich an all das zu gewöhnen und den Alltag zu beherrschen. Ich schlafe immer noch im Kombigleiter, aber auf meine Verdauungstabletten kann ich schon verzichten. Ich werde morgen wieder abreisen. Jan hat mich gebeten, das alles hier nicht zu zerstören. Die Übersiedlung großer Teile der verbliebenden Bewohner der fast vernichteten Erde würde auch diesen Planeten zerstören. Er schlägt vor, dass vielleicht alle 2 Jahre pro Kollektiv ein Erdenbürger aufgenommen werden könnte. Dann gäbe es eine Chance, ihn langsam in die Kultur einzuführen, ohne sie zu zerstören.

Ich habe 10 Jahre Zeit, mir zu überlegen, ob ich die Brauchbarkeit des Planeten melde oder das Gegenteil. Ob ich das Ende dieser jungen Kultur oder das Ende der Erdenmenschen wähle. Ist der Bestand der Kultur auf „Last Hope“ eine Garantie für das Überleben der Menschheit oder wird sich, zeitlich verzögert, auch da dieselbe Katastrophe wiederholen. Ist die Menschheit
überlebensfähig?

Vielleicht hat sich das Problem auch von selbst gelöst, bis ich wieder nach Hause komme. 20 Jahre sind eine lange Zeit!


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zuletzt bearbeitet 10.10.2023 | Top

RE: Fiktive Geschichten

#3 von petias , 08.02.2022 12:14

Betende Hände
(Peter Matthias 2018)




Im Schlafzimmer der Eltern hing ein Relief aus Messing, 9,5cm x 11cm im Format. Es zeigte die „Betenden Hände“ von Albrecht Dürer, eine Entwurf- Studie zu einem Apostel(->1) , die der Meister 1508 angefertigt hatte. Ich muss es als kleiner Knirps unzählige Male gesehen haben, ohne, dass es bei mir einen besonderen Eindruck hinterlassen hätte.

Die früheste Erinnerung an diese Devotionalie, stammt aus meinem 5. Lebensjahr. Der Tod unseres Nachbarn, eines Bauern und Holzhandwerkers, hatte meine Wahrnehmung verändert.
Der alte Mann übte sein Handwerk auf damals durchaus übliche, heute aber kaum mehr vorstellbare Art und Weise aus: Er hatte sich als Werkstatt eine Ecke in der Küche eingerichtet. In diesem zentralen Raum des kleinen Bauernhauses dominierte der Herd, ausschließlich mit Holz beheizt. Der war die einzige Wärmequelle des Hauses, sieht man von den drei Kühen ab, deren Stall nur durch den Eingangsflur von der Küche getrennt, unter demselben Dach lag, das die Wohnräume der menschlichen Bewohner vor Wind und Wetter beschützte. Dieser Herd wurde sogar im Sommer zur Mittagszeit befeuert, obwohl die Temperaturen ohnehin unerträglich schienen. Aber eine weitere Kochstelle gab es nicht, an der die alte Nachbarin und ihre längst erwachsene Tochter das Essen hätten zubereiten können. - Im Winter dagegen spendete der einzige beheizte Raum des Anwesens seinen Bewohnern und Gästen willkommene Wärme.

Dem Herd gegenüber, an der Fensterseite der Werkstattküche, stand in der einen Ecke der Küchentisch mit Eckbank und Stühlen, alles vom Hausherrn selbst gezimmert. Die andere Ecke des Raumes füllte die hölzerne Werkbank mit dem Hängeschrank darüber, der die Werkzeuge verwahrte. Hier verdiente sich der Schreinerbauer mit allerlei Holzarbeiten ein bescheidenes Zubrot zu den kärglichen Erträgen der kleinen Landwirtschaft.

Abend für Abend wurde mir die ehrenvolle, wenn auch manchmal lästige Aufgabe übertragen bei unserm Nachbarn, beim „Hasenmichl“(->2) , die Milch für unseren täglichen Bedarf holen zu gehen. Gegen halb sieben(->3) drückte mir die Mutter eine Milchkanne aus emailliertem Blech in die Hand, verschlossen mit einem Steckdeckel, der seinen Halt nur durch die 5 cm Blech fand, die er im Hals der Kanne steckte. Die achtzig Pfennig für zwei Liter hatte sie der Einfachheit halber in die Kanne gelegt und die Münzen schepperten laut, wenn ich durch den Schlupf (->4) im Lattenzaun, hinüber auf des Nachbarns Grundstück kletterte. Hinter dem Zaun bedurfte es dann noch ungefähr 200 meiner Trippelschritte, um, die Kanne an ihrem Henkel schwingend, vorbei an der Scheune und dem Misthaufen, zum Nachbarhaus zu gelangen.

Während eine der Frauen des Hauses in dem winzigen Milchwirtschaftsraum nebenan, im Tausch für die Münzen, die zwei Liter Milch mit einer Schöpfkelle einmaß, schaute ich wissbegierig dem Hausherrn bei seiner Arbeit zu. Hatte der gute Laune, so drückte er mir schon mal eine Raspel(->5) in die Hand und lies sie mich an einem Stück Holz ausprobieren, nicht ohne mich immer wieder zu ermahnen, gut auf meine empfindlichen kleinen Kinderfinger achtzugeben.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Spätsommerabend, als ich wie gewohnt meine Milchkanne schwingend durch die Haustür in den Flur trat. - Vor Schreck entglitt mir die Blechkanne und fiel scheppernd auf den Steinboden. Deckel und Münzen kullerten in verschiedenen Richtungen davon. Mitten im Flur lag der Hasenmichel Josef aufgebahrt in einem Sarg, in seinen Festtagsanzug gekleidet, mit sonderbar blassem, wächsernen Gesicht, die Hände wie zum Gebet gefaltet, einen Rosenkranz darum gewunden. - Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da gestanden hatte, versteinert, unfähig mich zu bewegen. Irgendwann hat mich die Kattl(->6) , die Tochter des Verstorbenen in die Küche geleitet und mich auf die Bank gesetzt. Unter Tränen erzählte sie mir vom überraschenden Tod des Vaters. Später brachte sie mich verstörten kleinen Jungen dann samt meiner Kanne voll Milch nach Hause und übergab mich meiner Mutter. Es war meine erste direkte Begegnung mit dem Tod eines Menschen.

Als ich einige Tage nach diesem verstörenden Vorfall das Schlafzimmer meiner Eltern betrat, fiel mein Blick auf diese „Betenden Hände“ und riefen in mir die Bilder von dem tot in seinem Hausflur aufgebahrten Nachbarn hervor. Bis heute muss ich an ihn, den Bauernhandwerker, mit einem leichten Schauer denken, wann immer ich diesem Bild begegne.

Ein paar Jahre später, ich besuchte mittlerweile die zweite Klasse der dörflichen Volksschule(->7) und konnte schon etwas lesen, sorgten dieser Umstand und weitere Erlebnisse in Sachen Tod dafür, dass die Wirkung, die das Bildnis auf mich ausübte, noch dramatisch verstärkt wurde:
Mittlerweile hatte die Gemeindeverwaltung am Eingang des Dorffriedhofes ein kleines Häuschen, das Leichenschauhaus, bauen lassen, in dem die Toten bis zu ihrer Beerdigung aufgebahrt wurden. Der alte Hasenmichel war einer der letzten Toten im Dorf, der noch im eigenen Hause aufgebahrt worden war.

Es galt als Mutprobe unter uns Kindern, sich nachts dem Leicheschauhaus zu nähern und durch das Fenster in der Türe des Häuschens die durch Kerzen schaurig beleuchteten Verstorbenen zu betrachten, und zwar so lange, bis wir sicher waren, dass die gefalteten Hände sich bewegten und uns gleichsam zu sich hereinwinkten. Eine schaurige Aufforderung, dem Verstorbenen ins Totenreich zu folgen. Wir liefen dann in schierer Panik weit weg vom Friedhof und wagten es bis zur Beerdigung nicht mehr, dem Toten nahe zu kommen. Dem Totenamt, und der anschließenden Beisetzung beizuwohnen, war Pflicht. Aber dann befand man sich in der Gesellschaft der anderen Dorfbewohner und der Sargdeckel ersparte den Anblick des oder der Verstorbenen.

Als ich bei einem Streifzug durchs Haus wieder einmal den „Betenden Händen“ im Schlafzimmer der Eltern begegnete, buchstabierten sich für mich Neuling im Lesen die Initialen „D“ im „A“ für „Albrecht Dürer“(->8) zu dem Wort „TOT“ und der Anblick der Messingtafel mit den Totenhänden und dem Wort „TOT“ darauf jagte mir noch lange gruselige Schauer den Rücken hinunter.

Bei meiner nächsten bewussten Berührung mit dem Tod war ich schon 14. Ein nur zwei Jahre älterer Nachbarsjunge und Spielgefährte war wegen Hodenentzündung ins Krankenhaus eingewiesen worden. Alle ein bis zwei Wochen fuhr ich mit einigen seiner anderen Kumpel in die Kreisstadt ins Krankenhaus, um ihn zu besuchen. Er war voller Ideen und Pläne, wollte eine Lehre machen, das lang ersehnte Moped kaufen und noch so manches, wenn es ihm dann mal besser ginge. Das zog sich über Monate hin. Als wir dann schon nicht mehr damit gerechnet hatten, wurde er eines Tages entlassen. Drei Tage später war er tot. Man hatte ihn zum Sterben nach Hause geschickt. Was anfänglich als Hodenentzündung begonnen hatte, entpuppte sich schließlich als Krebs, dessen Metastasen mittlerweile den ganzen Körper befallen hatten.

In den nächste Jahren verdächtigte ich jedes Zipperlein, das ich an mir bemerkte, sich als tödliche Krankheit zu entpuppen. Ich bot Gott einen Handel an: Ich würde auf das Masturbieren verzichten! Im Gegenzug sollte er mich doch bitte so alt werden lassen wie seinen Sohn Jesus, 33. Das erschien mir aus damaliger Sicht in weiter Ferne zu liegen und mein Tod zu diesem Zeitpunkt akzeptabel.
Aber mit der Zeit schöpfte ich wieder Zutrauen in die eigene Zukunft. Nach einem intensiven Prozess der Auseinandersetzung mit Religionslehrer, Seelsorger und Eltern löste ich mich von der Vorstellung eines persönlichen Gottes und fühlte mich an den „Deal“ mit Gott nicht länger gebunden. Sobald es rechtlich möglich war, trat ich aus der Kirche aus.

Mein Leben nahm seinen Lauf und ich gewöhnte mich dran, dass immer mal wieder um mich herum Krankheit und Tod ihre Lücken schlugen. Ich machte mir keine großen Gedanken darum, solange nicht die nächsten Angehörigen getroffen wurden.
Aber, dass dies geschen würde, war natürlich nur eine Frage der Zeit!

Ich war 57, als mein Vater starb. Er war 89, ein Alter, in dem man durchaus mit dem Tod rechnen musste. Aber er stand mitten im Leben. Bekleidete diverse Ehrenämter und plante schon die Feier zu seinen 90. Geburtstagsfest. Genau wie damals beim alten Josef, dem Hasenmichel, kam sein Tod völlig überraschend für mich.
Meine Eltern waren katholisch. Zum ersten mal erkannte ich einen tieferen Sinn in den Bestattungsriten der Kirche. Man wurde von Event zu Event geführt, immer wieder abgelenkt von seiner Trauer durch die kirchlichen und weltlichen Aufgaben, die der Tod eines nahen Angehörigen mit sich brachte.

Bei meiner Mutter gestaltete sich das Ende sehr viel vorhersehbarer. Sie wurde zunehmend passiver, ließ sich versorgen. Das Kurzzeitgedächtnis wurde schlechter und schlechter. Oft stellte sie dieselbe Frage im Minutentakt immer wieder. Die Antwort drang nicht zu ihr durch oder wurde sofort wieder vergessen. Der Gedanke an ihren 90. Geburtstag war ihr angenehm. Bis dahin hatte sie noch einen Rest an Lebenswillen. Das Fest selbst, als der Zeitpunkt gekommen war, überforderte ihre Kräfte. Sie zog sich recht bald zurück. In den kommenden Monaten verlor sie jede Lust am Leben, bis sie zuletzt die Nahrungsaufnahme mehr und mehr verweigerte. Wir Angehörigen kamen überein, Mutter eine zwangsweise Ernährung zu ersparen. Es hätte den Prozess des Sterbens nur sinnloserweise verlängert. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen und, wie wir Angehörigen fanden, jedes Recht dazu!

Der Tod der Eltern brachte mich erstmals mit den ganz praktischen Anforderungen des Endes eines Lebens in Kontakt. Es galt die Beerdigung zu organisieren. Das ist in erster Linie eine finanzielle Herausforderung. Geschäftsleute bieten ihre Dienstleistungen an und scheuen sich nicht, die besondere Lage der Hinterbliebenen auszunutzen, an ihre Elternliebe zu appellieren. Eine Beerdigung will organisiert sein. Verwandte und Bekannte werden eingeladen. Der Tote wird, der beginnenden Verwesung mit technischen und chemischen Mitteln entgegensteuernd, ansehnlich aufgebahrt und zur Schau gestellt. Das Sargmodell, Kränze und Blumenschmuck widersprechen der These, im Tode wären alle gleich. Eine Grabstelle muss gefunden und langfristig gemietet werden. Die Beisetzungszeremonie und der Leichenschmaus, ein ritueller Kannibalismus, sind zu organisieren.

Danach gilt es eine Sterbeurkunde bei den Behörden zu beantragen und mit ihr als Beweisdokument all die noch laufenden Verträge und Verpflichtungen aufzulösen, in die der Verstorbenen involviert war.
Die Wohnung des Verstorbenen ist aufzulösen, alle seine Dinge, Möbel, Geräte, Akten, Bücher Papiere sind zu sichten, zu bewerten, zu verteilen oder zu entsorgen.
Diese Erfahrung, die ich im Zusammenhang mit dem Tod der Eltern machte, erweckten in mir das Bedürfnis mit minimalem Aufsehen und Aufwand für meine Kinder, wohlorganisiert und leise abzutreten.

Diese Gedanken im Hinterkopf wählte ich aus den Dingen der Eltern nur ganz wenige aus um sie als Andenken zu behalten. Von diesen Gegenständen, die ich damals an mich genommen hatte, sind mir heute nur noch zwei in Erinnerung: Der „Franzose“(->9) meines Vaters, damals schon alt, ein Erbstück seines Vaters, er diente mir als erstes Werkzeug, mit dem ich an meinem Kinderfahrrad herumgeschraubt hatte und - die „Betenden Hände“, die von frühester Kindheit an große Bedeutung für mich gehabt hatten. Sie hängen mittlerweile seit vielen Jahren an der Wand meines Arbeitszimmers, wo ich sie jeden Tag, ehrfürchtig, aber ohne innere Konflikte ansehen kann. Ich habe mit dem Gespenst meiner Kindheit Frieden geschlossen.



Meine Angelegenheiten sind wohlgeordnet. Ich fühle, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist zu gehen. Immer habe ich Sportler, Künstler und Politiker bewundert, die es verstanden, rechtzeitig aufzuhören. Abzutreten, bevor es peinlich wird.
Ich fühle die Kräfte schwinden. Bald wird die Kurve meiner körperlichen Leistungsfähigkeit eine rote Linie unterschreiten, ab der sie nicht mehr ausreicht, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen. Ich spüre es genau: Kein neues oder konsequenter umgesetztes Trainingsprogramm, keine noch bessere Ernährung, wie oft hilfreich in den Krisen meines langen Lebens, könnten jetzt noch Änderung bewirken.

Es ist wie ein Geschenk, diesen Punkt in meinem Leben erkennen und danach handeln zu können.
Ich will damit keineswegs behaupten, das wäre die einzige Konsequenz. Es ist nur meine Konsequenz. Ich kenne eine Frau, eine Verwandte, mit der ich seit meiner Kindheit und bis zuletzt verbunden war. Sie lebte ein sehr selbstbewusstes und selbstständiges Leben. Geschäftlicher Erfolg bescherten ihr ein gutes Auskommen in fast 40 Jahren Ruhestand. Als die Zeit kam, wo ihre Kräfte und Möglichkeiten besagte rote Linie unterschritten, konnte sie sich Pflegekräfte leisten, die sie zuhause bestens versorgten. Obwohl sie weder Mann noch Kinder hatte, war sie aufgrund ihrer Kontaktfreudigkeit und Sozialkompetenz so sehr in Familie und Freundeskreis eingebunden, dass sie auch von dieser Seite stets besten Rückhalt und Unterstützung erfuhr.
Ich habe noch nie zuvor jemand, bettlägerig, fast blind und technisch weitgehend hilflos, mit solcher Selbstverständlichkeit, Fröhlichkeit und Würde leben sehen. Leben im echten Sinne des Wortes.

Die Vorbereitungen sind getroffen.
Auf meinen Streifzügen durch die Natur, den zahllosen Übernachtungen in Wald und Flur während meinen Wanderungen, entdeckte ich, schön abgelegen, mitten im Wald, an einer schwer zugänglichen Stelle eine Höhle. Nichts Spektakuläres. Mehr ein Felsspalt, eine Aussparung in den Steinschichten, wie sie im Schiefergebirge so häufig sind. So als hätte jemand ein Stück aus einer Tafel Blätterkrokant herausgenascht. Dort liegen gut getrocknete Äste bereit. Gleich werde ich mich auf meine letzte Wanderung begeben. In meinen braven, alten Rucksack sind ein paar Friedhofskerzen gepackt, eine Ladung in Wachs getränkter Holzwolle, wie ich sie all die Jahre über benutzt hatte um Feuer im Ofen zu entzünden und in Wachs getränkte Schnüre, die als Zündschnüre dienen sollen. Drei Kerzen, gut geschützt und lang bewährt gegen jede Unbill des Wetters in den Allerheiligennächten auf den Friedhöfen, stelle ich um die Stelle auf, an der ich mich in meinen lang gedienten Schlafsack zum letzten Nachtlager legen werde. Die Zündschnüre steckte ich in die vorbereiteten Löcher in die Seiten der Kerzen bis in die Mitte, wo der Docht verläuft. Das anderer Ende führe ich zu den Nestern aus Anzündmaterial, die ich unter dem vorbereiteten Haufen aus Ästen aufschütten werde. Liege ich dann im Schlafsack, wie tausende mal zuvor und doch so anders, zünde ich die Kerzen an. Bin ich sicher, dass sie stabil brennen und die Dochte, wie mehrfach erprobt, sicher entzünden werden, in ein paar Stunden, wenn die Grablichter weit genug heruntergebrannt sind, trinke ich zum letzten Mal aus meiner Glasflasche, die mir jahrelang eine treue Begleiterin gewesen ist. Dieses eine Mal wird es kein klares Quellwasser sein, das sie mir spendet. Nein, ein Kaltauszug aus diversen erlesenen Kräutern. Ihre Namen möchte ich zum Schutz des Lesers nicht nennen, aber er kann sich sicher denken, dass man einige davon in einem Buch der zwanzig giftigsten Gewächse unserer Breiten finden würde. Andere dienen dem Schlaf und der Beruhigung. Aber ich bin sicher, sie wären gar nicht nötig gewesen. Nach der für meine Verfassung höchst anstrengenden Fußreise zu meinem letzten Nachtlager und den kräfteraubenden Vorbereitungen werde ich vermutlich vor Erschöpfung eingeschlafen sein, sobald ich die Flasche aus der Hand lege.



Zwei Tage später erreichten ein Päckchen die Wohnung des Sohnes und ein wattierter Briefumschlag die Wohnung der Tochter. In dem Päckchen lag ein GPS- Gerät, wie es zum Geocaching verwendet wird und ein Duplikat des Briefes, den die Schwester erhielt. Im wattierten Umschlag befand sich zusätzlich eine Mikro-Speicherkarte, passend für das GPS- Gerät im Päckchen des Sohnes.

Liebe Kinder,
es ist soweit! Ich weiß, längst habt ihr Euren Frieden gemacht mit Eurem alten Vater, dem Sonderling und dafür danke ich Euch.
Es fällt mir nicht leicht, mich so leise davonzustehlen ohne mich „anständig“ von Euch zu verabschieden. Ihr wisst, „anständig“ war ich nie, fühlte mich nie einem Stande angehörig. Hätte ich mich von Euch persönlich verabschiedet, ich hätte Euch moralisch und rechtlich in Bedrängnis gebracht. Vermutlich hättet ihr versucht, mich von diesem Schritt abzubringen. Aber ich will es so!.
Wenn ihr das lesen werdet, bin ich tot, was immer das auch heißen mag. Gelang alles nach Plan – ich habe mir große Mühe mit der Vorbereitung gegeben – ist von meinen sterblichen Überresten nicht mehr übrig als ein Häuflein Asche. Mein Grab ist ein Felsspalt in schöner Waldgegend.
Ich hätte mich viel lieber als Nahrung für Pflanzen und Tiere gesehen.
Zu der „Feuerbestattung“ entschloss ich mich, weil kein zufälliger Finder meines selbstgewählten Grabes, möglicherweise Kinder, einer verwesenden Leiche oder einem Skelett begegnen sollten.
Ist es Euch ein Bedürfnis, viele Menschen haben gerne einen Ort des Gedenkens, mein „Grab“ zu besuchen, so hält jeder von Euch ein Teil in den Händen, das zusammengesetzt, Euch an die Stelle meiner Überreste führt. Die Daten auf der Speicherkarte sind verschlüsselt, der Entschlüsselungsalgorithmus befindet sich im GPS- Gerät.
Alles was ihr sonst noch wissen müsst, findet ihr, ich hoffe verständlich beschrieben und wohl geordnet, in meinem Haus, das jetzt bald das Eure sein wird. Einen Schlüssel habt ihr beide.
Wie ihr mit dem Wissen um meinen Tod umgehen wollt, ist natürlich Eure Sache. Wollt ihr Kosten und Scherereien mit den Behörden vermeiden, so lautet mein Vorschlag:
In ca. zwei Wochen werdet ihr eine SMS aus Südspanien von meinem Handy erhalten, die Euch mitteilt, dass ich wieder auf Wanderschaft bin und eine Weile nicht erreichbar sein werde. Zeigt die den Behörden, wenn ihr mich als vermisst meldet. Man wird mich schließlich für tot erklären und ihr könnt Euer Erbe antreten.
Verzeiht mir bitte das Spielchen mit den getrennten Informationen. Das einzige, was ich in meinem Leben bis zuletzt vermisst habe, ist, dass ihr Euch vertragt. Ich wollte eine Gelegenheit zu neuer Begegnung schaffen, in der Hoffnung, ihr könntet Eure Differenzen überwinden. Das Risiko, dass das nach hinten losgehen könnte, muss ich eingehen.
Ich wünsche jedem von Euch ein erfülltes Leben.
In Liebe
Euer Vater


Der Sohn klemmte das kleine Kupferrelief mit den „Betenden Händen“, 9,5cm x 11cm im Format, in einen Felsspalt über der kleinen Höhle. Die Tochter verstaute den Plastikbeutel mit etwas Asche aus der Brandstelle in ihrem Rucksack. Jeder der Beiden machte ein Foto mit dem Handy, bevor sie gemeinsam den Rückweg zum Haus des Vaters antraten.






Anmerkungen:
->1)
Eine Studie zu den Händen eines Apostels in Vorbereitung der Mitteltafel des Heller-Altars, der später verbrannte. Die „betenden Hände“ sind das wohl am häufigsten reproduzierte Werk des Meisters.
->2)
Sprich: „Hosenmichl“. Das war der Hausname des Nachbarhofes. Ein Hausname besteht unabhängig vom Familiennamen des jeweiligen Besitzers.
->3)
18:30 Uhr
->4)
Schlupf: eine Aussparung zum Durchschlüpfen. Ein paar Zaunlatten werden nicht fest mit dem Rest des Zaunes verbunden, sondern können, verbunden durch eine Querlatte unten und oben, in die Lücke des Zaunes eingehängt werden.
->5)
Ein anderes Wort für Feile
->6)
Das Wort „Kattl“ ist von Katharina abgeleitet.
->7)
Meine „Volksschule“, wie man damals noch sagte, war, was man später eine Zwergschule nannte. Es gab nur einen einzigen Klassenraum, in dem die ca. 30 Schüler, aufgeteilt je nach Geburtsjahrgang in die Klassen 1 bis 8 gemeinsam unterrichtet wurden.
->8)
Betrachten sie das Bild am Anfang des Textes, dann sehen Sie, was ich meine.
->9)
Der „Franzose“ ist ein verstellbarer Schraubenschlüssel, der an verschiedene Größen von Schraubenmuttern durch Verstellen der Maulbreite angepasst werden kann. In Frankreich wird dasselbe Werkzeug „Engländer“ genannt.


petias  
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zuletzt bearbeitet 04.02.2023 | Top

   

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