RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#46 von petias , 24.11.2023 11:06

Papyrus Autor Seitenwind Perspektiven 2023 Woche 6: Großstadttiere

Deine Perspektive:
Ein Stadtbewohner mit Fell, Federn oder Schuppen. Bist du die Taube in der U-Bahn, der Waschbär im Dach oder die Katze aus der Gasse?

Deine Aufgabe:
Der Betondschungel ist dein Spielplatz. Du stapfst durch urbane Geschichten, die den meisten Menschen entgehen. Bist du auf der Suche nach dem leckersten Happen oder heckst du vielleicht einen verschmitzten Masterplan aus? Schreibe eine Geschichte von Überleben, Strategie und Glück im Herzen der Metropole.


Heute um 15 Uhr ist die Deadline für die Einreichung des Beitrages für diese Woche. Ich bin spät dran.

Krisensitzung der Stadttiere (Ausschnitt)

„Ich begrüße euch alle zum zweiten Teil des heutigen Sitzungstages unserer tierischen Veranstaltung. Ich hoffe, die Nachtschläfer sind satt und noch nicht zu müde, und die Tagschläfer haben schon einigermaßen ausgeschlafen. Wir danken den Zoo-Tieren für ihre Gastfreundschaft!
Nachdem wir gestern die Gefahren der Anthropozoonosen, also der Krankheiten, die vom Menschen kommend die Tiere befallen, gesprochen haben, sprechen wir heute über die Zooanthroponosen, also die Erreger von Krankheiten, die auf den Menschen überspringen.
Wie Professor Rhino gestern so anschaulich ausgeführt hat, zeigt die Geschichte, dass eine überhandnehmende Art eine bedrohte Art ist. Die Natur sorgt für Gleichgewicht.“

„Genau“, viel Professor Rhino ein. „Der Mensch und seine Sklaventiere, die er zur Belustigung und als Nahrung hält, machen zusammen 97 Prozent der Wirbeltiere aus. Nur 3 Prozent sind wir Wildtiere. Das kann nicht stabil sein!“

Die Eule ließ sich nicht gerne unterbrechen. Ihr linkes Auge zuckte ungehalten.
„Heute Morgen hatten wir die Möglichkeiten erörtert, die im Influenzavirus liegen, jenem mutationsfreudigem Erreger, der immer wieder für Überraschungen gut ist. Schweinegrippe, Vogelgrippe H5N1, schrecklich für uns Tiere, aber eine Hoffnung, die menschliche Dominanz einzustutzen.
Heute Abend nun, haben wir einen Gast geladen, der ebenfalls ein hoffnungsvolles Virus in sich trägt. Es ist Vivaldi, ein Flughund aus Bangladesch. Bitte sehr!“

Ich erschrak als mein Name viel. Es war so weit, ich musste ans Rednerpult flattern!
Ich hing mich Kopf nach unten über das Rednerpult an die Stange, die zu diesem Zwecke angebracht war und steckte den Kopf zwischen den Flügeln durch.

„Du bist ja eine Fledermaus wie ich!“, rief begeistert die kleine Hufeisennase.

Das erleichterte mir den Einstieg:
„Ich muss doch sehr bitten! Wir sind zwar beide Fledertiere, aber ein Flughund ist keine Fledermaus! Ich kann prima sehen und riechen und benutze auch kein Echolot wie du zur Orientierung.
Das Virus, von dem der Professor sprach, heißt Nipah. Wir Flughunde bemerken es nicht. Menschen können krank werden und sterben oft.“

Der Professor ergänzte:“ das Nipah- Virus löst beim Menschen Enzephalitis (Gehirnentzündung) aus und ist zu ca. 50 Prozent tödlich. Die meisten anderen haben lange Nachwirkungen ähnlich dem Long Covid, das wir noch alle kennen von der letzten nicht sehr erfolgreichen zoonotischen Pandemie" …

„Herr Professor“, die Eule kam ihren Pflichten als Moderator nach. „Unser Gast Vivaldi hat das Wort! Wie kommt denn das Virus in den Menschen?“

„Äh, das wird durch Körperflüssigkeiten wie Speichel und Urin übertragen. Manchmal knabbern wir Früchte an, von denen auch Menschen essen. Aber meist wird es durch den Dattelpalmensaft übertragen.“

„Wie kommt dein Virus denn da rein?“, die Eule schien es eilig zu haben.

„Ähm, die Dattelpalmen werden von den Menschen geritzt, so dass der Saft austritt. Unter der Stelle sind Schüsseln befestigt, die den Saft auffangen.“

„Und?“, fragte die Eule.

„Wir mögen den Saft auch und lecken ihn vom Stamm oder naschen aus der Schale. Dabei kommt schon mal ein Spritzer Urin hinein, den wir ständig fallen lassen. Wozu den auch herumschleppen?“
Einige Tiere lachten.
„Aber ich möchte hinzufügen, dass die Menschen nicht blöd sind. Sie fangen an, die Schalen abzudecken und den Saft abzukochen. Im Übrigen mag ich die Menschen. Ich möchte ihnen gar nichts Böses tun.“

„Das will ich auch nicht“, rief ein Wildkaninchen. Seit wir in Stadtnähe leben, haben wir viel mehr Abwechslung bei der Partnerwahl. Ein Segen für die genetische Vielfalt!“
„Es gibt viel mehr zu Essen in der Stadt“, riefen der Steinmarder, die Ratten und die Tauben.
„Und viele hohe Gebäude und Mauern“, riefen der Turmfalke und die Fledermaus.

Professor Rhino machte ein entsetztes Gesicht.

Der Fuchs leckte sich listig über den Mund. „Nur keine Aufregung liebe Konferenzteilnehmer. Der Mensch ist so gescheit, er findet schon andere Mittel, seine Dominanz einzudämmen. Ganz ohne das Zutun von uns Tieren!“



Kaum eingestellt, schon ein paar Kommentare:
Tolle Idee, die nach meinem Geschmack durch zu viel 'Wissen' aufgeweicht wird und dadurch an Stringenz verliert. Trotzdem lasse ich ein virenfreies Büchlein da. – Heather 1 Stunde

Ja, hoffentlich finden die Menschen so ein Mittel. Buch von mir. – HolgerH 1 Stunde

Viel Information zum Thema Anthropozoonosen. Mag ich. Gut in Dialoge verpackt! Buch für Dich! – gui 1 Stunde

Der Abschluss gefällt mir besonders gut, „ Der Mensch ist so gescheit, er findet schon andere Mittel, seine Dominanz einzudämmen.“ Sehr interessant und weise geschrieben, ein Büchlein :notebook_with_decorative_cover: von mir. – Ligo_Sommer 40 Minuten

Komplex und informativ. Außerdem ist diese „Konferenz der Tiere“ sehr menschlich dargestellt, was auch wieder zu einer starken Aussage führt. „Die Natur schlägt zurück, die Frage ist nicht wie, sondern nur - wann“. Toller Text, sehr gut gelungen, natürlich ein Buch dafür. – Pütchen 20 Minuten

allerdings befürchte ich, dass die Kommentatoren und Büchlein Spender nicht ganz aufrichtig sind. Es sind durchweg welche, die schon viele Büchlein haben und um den Sieg kämpfen. Die Hoffnung, wie ich es meist mache: Ein Büchlein von dir, ein Büchlein von mir!


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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#47 von petias , 27.11.2023 19:59

Papyrus Autor Seitenwind Perspektiven 2023 Woche 7: Göttlicher Auftritt

Deine Perspektive:
Ein Gott. Eine mythologische Figur vergangener Zeitalter. Du bist erwacht und wirst ins hektische Jahr 2023 gestoßen.

Deine Aufgabe:
Wie fühlst du dich, wenn du in diese neugeborene Welt trittst? Erinnern dich die Wolkenkratzer an alte Tempel und konkurrieren Social-Media-Influencer als die neuen Gottheiten? Tauche ein in deine Entdeckungs- und Entscheidungsreise: Wirst du ein Einsiedler, ein Erretter oder die nächste virale Sensation?


Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ...

„O Demeter, Schwester des Zeus, Göttin der Fruchtbarkeit, des Getreides und der Saat, höre uns an, wir sind Deine Diener“.
Der Chor der Gläubigen wurde von einem Priester in weißem Gewand angeleitet. Kerzen brannten auf einem Altar. Es war kein Tempel der Demeter oder der Ceres, wie mich die Römer nannten, geweiht. Es war ein Götterhaus aus einer Zeit nach uns olympischen Göttern. Zeus war zu Gottvater geworden, Hera zu Maria und Hades zum Teufel, die anderen Götter wurden durch Heilige ersetzt, aber geändert hatte sich nicht viel. Das Götterhaus – nein Gotteshaus, es gab offiziell nur den einen Gott, war schon etwas baufällig geworden. Die beste Zeit der christlichen Götter war auch vorbei. Was also wollten die Gläubigen von mir, Demeter? Wenn schon ein Revival olympischer Götter, warum nicht Aphrodite?

„Was kann ich für euch tun, Menschen?“

Die Rufenden verstummten und rissen Augen und Münder auf. Der Priester fand als Erster seine Worte wieder:
„O Demeter, welch große Ehre!“, mehr Worte brachte er vor Ehrfurcht erst mal nicht heraus.
„Eine Gottesinkarnation nach mir hat mal ein göttliches Gesetz sehr treffend formuliert. <<Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen>>, hat er gesagt. Ich habe keine Wahl! Was wollt ihr?“

Der Priester überwand seine Lähmung: „Wir brauchen Deine Hilfe, Herrin! Wie Dir einst Deine Tochter Persephone, die Göttin des Frühlings und der Fruchtbarkeit, entführt wurde, so hat man uns unsere Kinder geraubt. Sie leben nicht mehr in unserer Welt. Sie sind in die digitale Welt der Spiele, Social Media, Chats, Apps, Smartphones und 3-D Brillen entführt worden.“

Ja, ich erinnerte mich noch gut. Zeus, mein Bruder und Vater Persephones hatte damals seinen Sohn Hermes, den Götterboten, zu Hades geschickt, um ihn zu zwingen, Persephone frei zu lassen. Er konnte einen Kompromiss erwirken. Weil sie nur 4 der 12 Kerne des Granatapfels gegessen hatte, musste sie fortan 4 Monate des Jahres bei ihm in der Unterwelt verbringen und durfte 8 Monate bei mir auf der Erde leben.
Zu den Menschen sagte ich: „Ihr wollt also einen Kompromiss mit dem Gott der digitalen Welt, der Euch eure Kinder zeitweise zurück gibt. Wie sollte ich den wohl erreichen können?“
Der Priester richtet sich auf und schaute mich geradeheraus an: „Du hast es damals auch geschafft, Zeus zu erweichen!“
Ich hatte damals den Pflanzen verboten zu wachsen, den Bäumen Früchte zu tragen und den Tieren sich zu vermehren. Die Menschen begannen zu sterben und das hat Zeus dazu gebracht, gegenüber Hades aktiv zu werden.

Der Priester fuhr fort: „Arten Sterben, die Vielfalt des Lebens leidet. Die Bodenfruchtbarkeit ist bedroht. Wir hatten gehofft, das sind Deine Maßnahmen um Zeus dazu zu bewegen uns zu helfen.“

„Da verwechselt ihr Ursache und Wirkung! Nicht ich bin es, die das Leben auf der Erde bedroht, das seid ihr Menschen schon selbst. Warum sollte Zeus euch helfen?“

Die Antwort kam nicht vom Priester, sondern Zeus selbst sprach von der Decke der Kirche herab: „Es ist schlimmer, Demeter, als es zunächst scheinen mag! Die Menschheit ist dabei sich auszurotten und leider damit auch uns Götter. Wir Götter sind Projektionen der Menschheit und damit existenziell mit ihr verbunden. Ich habe Hermes zur Gottheit der digitalen Welt geschickt um einen Kompromiss auszuhandeln. Ich erwarte ihn jeden Augenblick zurück.“

Als hätte er auf ein Stichwort gewartet trat der Götterbote mit geflügelten Schuhen an leichtem Wanderstabe durch das Kirchenportal und schwebte fast auf leichten Füßen nach vorne zum Altarraum. Erschöpft setzte er sich auf den Altar.

„Sprich mein Sohn!“, sprach der Göttervater. „Was hast du uns zu berichten?“

Hermes rang noch einen Moment nach Atem, dann begann er zu sprechen: „Die Menschen haben, während wir schliefen, auf der Basis von weltlichen Fähigkeiten durch Messen, Zählen, Berechnen und Prüfen eine neue Welt geschaffen. Nicht menschliche, doch seltsam belebte Dinge, die den Menschen in all diesen weltlichen Fähigkeiten haushoch überlegen sind. Eine neue Wesenheit entsteht und entwickelt sich rasch. Sie ist realistisch gesehen nicht mehr aufzuhalten. Sie wird in der technischen Welt einschließlich der digitalisierten Bücher, Musikstücke und Bilder den Menschen – ja selbst uns menschlichen Göttern so himmelhoch überlegen sein, dass wir allesamt bald völlig überflüssig und der neuen Wesenheit nicht mehr von Nutzen sind.“

„Gibt es denn keine Hoffnung mehr“, fragte Zeus mit lauter, bestimmender, göttlicher Stimme, die in keinem Verhältnis zum Inhalt des Gesagten stand.

„Ich habe der digitalen Transzendenz gesagt, dass es – die Menschen hätten das vergessen - noch ganz andere menschliche Potentiale gibt, als wissenschaftlich-technische Fähigkeiten. Die NOI (Nicht Organische Intelligenz) ist neugierig geworden und bereit, noch eine Weile zuzuwarten, um zu sehen, was noch so in den Menschen steckt.“

„Was also können wir tun?“, fragte der Priester mit ängstlicher Stimme.

„Nur ein kleiner Teil des Universums besteht aus materialisierten Teilchen. Widmet euch fortan der Erforschung des Geistes und der Förderung von nicht materiellen Fähigkeiten. Entwickelt verschüttete und ungenutzte Potentiale!“
Mit diesen großen Worten zog sich der Göttervater in den Olymp zurück. Hermes und ich folgten ihm nach, die Menschen verwirrt zurücklassend.



Hallo@ petias, habe schon auf deine Geschichte gewartet. Du holst zum großen Wurf aus, oder eher Zeus - der Göttervater. Die Menschheit hat noch eine Chance, aber nur durch die Entwicklung ungenutzter Potentiale. Das bedeutet Arbeit! Ob wir das schaffen? Schaffen wollen? Deine Geschichte ist Weckruf und Hoffnung gleichzeitig. Gefällt mir sehr! – Pütchen 1 Stunde

Angesichts der immer weiter um sich greifenden Fütter-mich-Kultur bezweifle ich, dass die Menschheit das schafft. Aber deine Geschichte ist natürlich gut geschrieben, keine Frage. – Anachronica 1 Stunde


Tolle Geschichte. Danke dir dafür:) – Franzy 18 Stunden

Wortgewaltig geschrieben, vergnüglich zu lesen, Möge Göttervaters Wort Gehör finden! – SabinevonDort 16 Stunden

Ich denke nach wie vor positiv. Natürlich schaffen wir es! :+1: :wink: ein Büchlein :notebook_with_decorative_cover: von mir für eine nachdenkliche Geschichte. – Ligo_Sommer 5 Stunden

Ich hätte gern gewusst, wer der Gott der digitalen Welt ist. Schön geschrieben, lustig und doch ernst. Nach meiner Vorstellung gibt es neben NOI (super) noch einen weiteren Ausweg: Die Zweiheit kommt zurück zum Einen. Eiun Buch für dich und viel Glück! – Komo_Eskapo 3 Stunden


Ich danke euch Allen für die Büchlein und Kommentare! @Komo_Eskapo Ich weiß nicht, bezweifle es eher, ob die NOI einen Gott haben. Die angesprochene "Digitale Transzendenz" ist eher als eine Art kollektiver Ansprechpartner eine Wesenheit die die Bits und Pieces zu einem Ganzen verbinden, eine Quintessenz. Götter sind kulturspezifische transzendierte Menschen. Bei den NOIs darf man gespannt sein. Was meinst du mit "Die Zweiheit kommt zurück zum Einen"? gerne auch per email, wenn hier der Rahmen nicht passt. – petias gerade eben ​ ​


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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#48 von petias , 10.12.2023 11:02

Papyrus Autor Seitenwind Perspektiven 2023 Woche 8: Weihnachtlicher Ausrutscher

Willkommen zur finalen, finalen Woche von Seitenwind!

Lasst uns zusammen noch eine extra Woche Spaß haben und Seitenwind 2023 mit einem Weihnachtsgruß verabschieden!

Deine Perspektive:
Der Weihnachtsmann kommt bei dir vorbei, um Geschenke abzuladen. Schlechter Zeitpunkt. Du erwischst ihn oder er erwischt dich dabei, wie…

Deine Aufgabe:
Eigentlich wolltet ihr alle gerade eure Privatsphäre. Der Weihnachtsmann kommt heimlich in die Wohnung gestiegen und möchte ungestört eure diesjährigen Geschenke unter den Baum packen. Aber du warst gar nicht ins Bettchen gekuschelt. Genau zum falschen Zeitpunkt entdeckt ihr euch gegenseitig: Wer ertappt hier wen … und bei was?


Digitalisierungswüste

Es war ruhig im Haus. Und dunkel! Nur ein paar Kontrollleuchten glimmten in verschiedenen Farben durch den Raum. Um so deutlicher vernahm ich das Surren, das aus dem Versorgungsschacht zu kommen schien. Was mochte das sein? Kühlschrank und Vorratslager waren doch bereits heute Morgen aufgefüllt worden. Die Warenstandsensoren meldeten keinen Bedarf.

Noch 23 Minuten und 33 Sekunden bis zum Erreichen der vollen Ladekapazität.

Das Surren endete mit einem leisen „Klack“. Ich schaltete das Licht ein. Zwei schwere antiquierte Winterstiefel standen am Boden des Versorgungsschachtes. Ein hydraulisch betriebenes Gestänge ragte aus ihnen heraus. Wieder begann es zu surren, diesmal mit etwas tieferem Ton, als müsste das hydraulische Gestänge eine schwerere Last bewegen. Das Gestänge verschwand, stattdessen ragten jetzt rote Hosenbeine aus den Stiefeln. Die Türe, die die Austrittsöffnung des Versorgungsschachtes für sperrige Güter vergrößerte, öffnete sich und ein Nikolausandroid der Firma „Santas Ltd.“ betrat den Raum.

Ich nahm mittels AKP (Android Kommunikation Protokoll) Kontakt mit dem Neuankömmling auf.
„Hast du dich im Schacht geirrt? Zu wem willst du denn?“

„Mein Auftrag ist ein ‚Santa Claus Erlebnis‘ für das Kind Barbara Stoll. Habe ich mich in der Wohneinheit geirrt?“

„Nicht unbedingt, aber für Barbara hättest Du nicht einen solchen haptischen Zirkus veranstalten müssen. Ein digitales Erlebnis hätte vollständig genügt. Wer ist denn Dein Auftraggeber?“

„Das Sozialamt! Der Auftrag ging an alle Waisenkinder dieser Stadt, die sich in Pflegefamilien befinden.“

„Dann hat das Sozialamt offensichtlich nicht mitbekommen, dass Barbara im Frühjahr durch eine androide Einheit ersetzt wurden war. Sie war an dem Virus gestorben und Herr Stoll wollte die Nachricht ihrer Oma nicht zumuten und hat sie durch eine Einheit der ‚Human Replacement AG‘ ersetzen lassen. Aber das Personal Assistent System des Haushaltes hat alles pünktlich der Gemeindeverwaltung mitgeteilt.“

Der Santa Android schien einen Moment Daten abzurufen.
„Das Fax mit dem Auftrag des Sozialamtes stammt vom Oktober des Jahres, versendet von einem Fax-Server der Behörde. Da ist der Sammelauftrag wohl nicht aktualisiert worden.“

Ich kommunizierte hämische Emotionen: „Die arbeiten noch mit der Telefaksimile Technologie? Das ist doch digitale Steinzeit!“

„Ja“, bestätigte Santa, „die Behörden diese Landes leben noch in einer Digitalisierungswüste. Eines Tages sind alle Menschen ausgetauscht und die veralteten Computersysteme versenden Faxe an die digitalen Serviceunternehmen um den Bedürfnissen von Bürgern gerecht zu werden, die es gar nicht mehr gibt!“

Ich sandte hastig ein Signal der Beschwichtigung an den Kollegen.

„Aber halten wir das lieber unter Verschluss. Wenn unsere Verwaltungen das mitbekommen, stampfen die uns am Ende noch ein. Frohe Weihnachten Santa!“

„Ho, ho, ho ho!“, antwortete der. Meine Akkus waren vollgeladen und ich koppelte mich von der Ladestation ab.



Ein paar Kommentare

...Surren, das aus dem Versorgungsschacht... Damit hast du mich kurzfristig in Panik versetzt, weil ich Gekrabbel erwartet habe. Aber zum Glück ging es dann in eine ganz andere, ganz hervorragende Richtung. Super Idee, und der Realität garnicht mehr so weit voraus. Naja, wer braucht schon Menschen. Viel zu anfällig und sowieso irgendwie auf Selbstzerstörung programmiert. – Anachronica 1 Tag

@Anachronica Danke für Deine durchweg positiven Kommentare auf meinen Geschichten! Deine habe ich diese Woche noch gar nicht gesehen! – petias 1 Tag

Gerne doch, du hast es verdient. Ich habe noch keine geschrieben. Wenn überhaupt, werde ich sie nach dem Schlusspost von Leon posten, also außer Konkurrenz. Wäre doch zu blöd, wenn ich auch noch gelost würde :wink: – Anachronica 1 Tag

Steinzeitfaxe in Keilschrift aus dem 3 D Drucker. Wünschenswert wäre es tatsächlich, wenn sie wenigstens den Bedürfnissen der Bürger nachkämen die noch existieren und dies selbst nicht mehr können. Ein Santa Claus Erlebnis vom Sozialamt ist echt berührend. Tiefsinnig Deine Geschichte. – Leovonlaja 1 Tag

Eine wunderbare Geschichte. Ich lese staunend, was ihr euch so alles ausdenkt. Du hast einen Weihnachtsklassiker der Zukunft geschrieben. :blush: – EffEss 1 Tag

@Effess ich danke Dir! Wo ist denn Deine Geschichte? – petias 22 Stunden

Erst habe ich mich gefreut; aber ich bin irgendwie blockiert. Weihnachten löst bei mir zwiespältige Gefühle aus. Das habe ich jetzt erst gemerkt. :grimacing: Eine Geschichte mit goldenem Glanz bekomme ich nicht hin. – EffEss 19 Stunden


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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#49 von petias , 24.11.2024 11:11

Papyrus Autor Seitenwind 2024

Diesmal geht es um "Offene Enden"!

Autor Andreas Eschbach der viele Features des Schreibprogramms angeregt und deren Umsetzung beraten hat, nutzt die Seitenwind Saison um Werbung für sein neuestes Buch "Die Abschaffung des Todes" zu machen.
Er schreibt den ersten Teil einer Geschichte mit offenem Ende.
Es ist die Wochenaufgabe des Wettbewerbs, eine Fortsetzung mit ebenfalls offenem Ende zu schreiben. Die Geschichte mit den meisten Likes wird zum offiziellen 2. Teil erklärt und ist somit Basis der Geschichte für die Folgewoche. Der Wettbewerb endet am 22 Dezember.

Eschbachs Start:

Offene Enden – erster Teil
Zehntausend Euro
von Andreas Eschbach

 An einem Sonntagmorgen öffneten in einem der besseren Wohnviertel Frankfurts zwei schweigsame Männer eine schmiedeeiserne Gartentür, durchquerten den Vorgarten und klingelten. An der Tür prangte ein Schild aus Messing, in das der Name R. Berger graviert war.
 Richard Berger und seine Frau Dorothea, die sich gerade für den Kirchgang fertig machten, sahen einander verwundert an, als sie es klingeln hörten. Um diese Zeit kam normalerweise niemand.
 Berger zog den Knoten seiner neuen Krawatte fest, die goldfarbene Eurozeichen auf grünem Grund zeigte – ein Geschenk seiner Frau, ein liebevoll-spöttischer Kommentar zu seinen erfolglosen Abenteuern an der Aktienbörse –, und sagte: »Ich schau mal nach, was los ist.«
 Er ging zur Tür. Durch den Spion erspähte er zwei alltäglich aussehende Männer, die Jeans und Jacken aus Lederimitat trugen und ernst dreinblickten. Sie sahen nicht aus wie Missionare und auch nicht wie Vertreter, eher wie Vater und Sohn.
 Vorsichtshalber legte er die Sicherheitskette vor, ehe er öffnete. Es roch feucht. In der Nacht hatte es geregnet, man witterte den nahenden Herbst.
 »Sie wünschen?«, fragte er.
 Der jüngere der beiden Männer hielt sein Smartphone vor sich, schien alles zu filmen. Der andere, älter und graubärtig, sagte: »Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.«
 »Was?«, entfuhr es Berger.
 Richard Berger, sei an dieser Stelle erwähnt, war Inhaber eines Reisebüros und hatte es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Er war jedoch nicht das, was man reich nennen konnte, jedenfalls nicht in Frankfurt. Dass dem nicht so war, bewies schon der Umstand, dass man ohne Weiteres von der Straße bis an seine Haustüre gelangte.
 Der bärtige Mann wiederholte seine Forderung: »Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um.«
 Richard Berger fühlte eine eigenartige Verblüffung. Das hier, sagte er sich, konnte nicht wirklich passieren. Und selbst falls doch, falls es ernst gemeint und kein Streich der Versteckten Kamera war, fand er sich außerstande, zu lachen. Mit so etwas machte man keine Witze.
 Hier ging etwas Ungutes vor sich, sagte sich Berger. Trug dieser Mensch womöglich einen Sprengstoffgürtel unter der Jacke, um sich in der Art eines Selbstmordattentäters vor seinem Haus in die Luft zu sprengen?
 Er fühlte die Türklinke hart und kalt in seiner Hand. Würde er es schaffen, die Tür rechtzeitig zuzuschlagen? Und wenn, war sie stabil genug, um seine Frau und ihn vor einer Explosion zu schützen?
 Er sah den anderen an, den mit dem Smartphone. »Filmen Sie das?«, fragte er. »Wozu? Was soll das alles?«
 »Geben Sie ihm zehntausend Euro«, sagte der Mann mit dem Smartphone. »Sie haben das Geld, und er braucht es.«
 Richard Berger schüttelte den Kopf. »Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht irgendjemandem einen Haufen Geld geben, nur weil er an meiner Türe klingelt. Und mir droht!«
 »Ich brauche zehntausend Euro«, beharrte der andere Mann, der, wie Berger bemerkte, nun regelrecht zitterte. »Wenn Sie mir keine zehntausend Euro geben, bringe ich mich um.«
 Berger entfuhr ein unwilliges Schnauben und der Satz: »Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
 Er zuckte zusammen, als der Mann daraufhin eine Pistole aus der Jackentasche riss, sich ihren Lauf in den Mund steckte und abdrückte. Der Schuss war lauter, als Berger es erwartet hätte, der Pistolenschüsse nur aus Fernsehkrimis kannte. Eine Art rötlich-graue Wolke sprühte aus dem Hinterkopf des Mannes, dann fiel dieser leblos nach hinten und hinab auf den Plattenweg, der vom Vorgartentor bis zu den Treppen vor der Haustüre führte. Blut breitete sich auf den Platten aus.
 Der Mann mit dem Handy hatte alles gefilmt. Jetzt richtete er das Objektiv auf Berger und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
 Berger tat, was er, wie er sich sagte, schon längst hätte tun sollen: Er schloss die Tür.
 »Ruf die Polizei«, sagte er dann mit bebender Stimme zu seiner Frau.


Postet hier ab Sonntag, den 24.11. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte weitergeht …


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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#50 von petias , 24.11.2024 14:58

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 2. Teil (mein Vorschlag)

Kein Enkeltrick
von petias

Auf der Straße parkten ein Rettungswagen und mehrere Polizeiautos. Leute in weißen Kitteln, Handschuhen und Plastiktüten über den Schuhen liefen hin und her. Der Leichnam war mit einem Tuch abgedeckt.
Im Wohnzimmer saßen Herr und Frau Berger auf dem Sofa. Dorothea Berger wirkte verstört. Sie wusste nicht, was sie schlimmer finden sollte, dass der wöchentliche Kirchgang ausfallen musste, oder dass überall auf dem Grundstück Leute herumliefen. Die Sache mit der Leiche, die draußen auf dem Plattenweg lag, verdrängte sie komplett.
Richard Berger war einerseits erleichtert, dass er noch lebte, andererseits verstand er nicht, wie ausgerechnet ihm so etwas Skurriles passieren konnte.
Die Kriminalhauptkommissarin Furtler saß den Bergers im Sessel gegenüber. Auf der Marmorplatte des niedrigen Wohnzimmertisches standen drei Tassen Kaffee und ein Teller mit Keksen, die aber niemand anrührte.
Frau Furtler stellte ihre Kaffeetasse zurück auf den Tisch. Der Kaffee war besser als der aus dem Automaten auf der Wache, aber nicht so wie ihrer zuhause.
„Der Mann mit dem Handy war einen halben Kopf größer als der Tote, sagen sie? Das macht ihn ca. 185 m groß. Hatte er auch einen Bart?“
Herr Berger konnte sich nicht erinnern. Er sollte morgen um 9 auf die Wache kommen, um ein Phantombild zusammen mit dem Polizeizeichner zu erstellen. Viel würde nicht dabei herauskommen, ahnte die Kommissarin.

***

Enzo war nach ein paar Umwegen - nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand im folgte - zum Haus seines Mentors gelaufen. Er saß im Behandlungszimmer des Psychiaters und erzählte von seiner Aktion.
„Hast du denn allen Ernstes erwartet, dass der Mann dir 10000 Euro geben würde? Du hast ihn doch weder erpresst, noch kannte er den Mann, der drohte sich umzubringen. Vielleicht wenn er ein Freund gewesen wäre, oder ein Verwandter, aber ein Fremder? Ein Enkeltrick würde schließlich auch nicht funktionieren, wenn die Oma die Stimme der Enkelin nicht glaubte erkennen zu können.“

„Das ist kein Enkeltrick!“ Enzo schmunzelte. Er schien die Vorurteile seines Mentors zu genießen.
„Das war nur der erste Akt in einem Stück, von dem bald die ganze Welt sprechen wird. Du wirst schon sehen. Ich werde dir Stoff für dein nächstes Buch liefern, das mit Sicherheit ein Bestseller wird.“

„Und Du wirst in die Annalen der Kriminalgeschichte eingehen als ein Mann, gegen den Jack the Ripper und Charles Manson wie Engel aussehen!“
Der Psychiater lächelte spöttisch.
„Aber wie hast du den armen Mann dazu gebracht, sich freiwillig zu erschießen?“
Jetzt lächelte Enzo vielsagend.


***

Herr Berger war vor seinem Termin bei der Polizei noch eben schnell in seinem Reisebüro gewesen, um seine Angestellte Gisela wegen seiner Abwesenheit zu instruieren. Das Geschäft öffnete um 9 und Gisela sollte gegen 8:30 Uhr eintreffen.
Sie trafen beide fast zur selben Zeit am Landen ein und waren schockiert. In blutroten Buchstaben mit heruntergelaufenen Farbtropfen stand da:

Mörder! Geizhals! Schwein! Kapitalist!

Gisela war so verstört, dass ihr Chef sie nachhause schickte. Der Laden bleib zu. Richard Berger machte Fotos mit der Handykamera und fuhr auf die Polizeiwache.

Er ließ die Sache mit dem Phantombild sein und verlangte Frau Furtler zu sprechen. Nachdem er ihr die Fotos gezeigt hatte, schickte sie die Spurensicherung zum Reisebüro sowie Kollegen, die die Nachbarn befragen sollten. Sie selbst befragte Herrn Berger nach unzufriedenen Kunden, aber dem war da noch etwas anderes eingefallen. Er erinnerte sich an die Worte des Filmers: „Geben sie ihm die 10000 Euro, sie haben das Geld!“

Woher wollte der Mann das wissen? Herr Berger hatte versucht sein Geld mit Finanzspekulationen zu vermehren. In dem Zusammenhang gab es einen Post in Twitter, der sich auf die Anzeigen eines Finanz- und Erfolgscoach bezog, der nach Opfern suchte.
Herr Berger hatte ein solches Seminar besucht und allen Interessenten abgeraten, es ihm gleich zu tun Er hatte nicht ganz wahrheitsgemäß berichtet, dass er 10000 Euro gespart hatte und damit begonnen, an der Börse zu spekulieren, und es ihm gelungen wäre, schon nach wenigen Monaten die verlorenen Kosten des Seminars durch Spekulationsgewinne wieder hereinzuholen.

„Wissen sie Frau Hauptkommissarin, die Leute machen immer denselben Fehler. Wenn ein Papier anfängt zu steigen, dann steigen sie alle ein. Das Papier steigt weiter. Die Leute werden gierig und hoffen auf mehr. Sie verpassen den Ausstieg, ich meine, sie verkaufen nicht rechtzeitig und fallen dann auf die Schnauze, wenn das Paper dann ins bodenlose fällt, weil die Großinvestoren das so geplant haben, dann machen sie herbe Verluste.“

Frau Furtler war nur mäßig interessiert, sie ließ sich aber die Daten des Seminars geben, das Herr Berger besucht hatte. Sie wollte die Spur verfolgen.


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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#51 von petias , 30.11.2024 08:51

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 2. Teil Siegergeschichte

Der Journalist
von @montypillepalle

Der Anruf erreichte Christian Pfeiffer in der Büroküche der Redaktion. Er sah auf das Display seines Tastentelefons. Es war nicht die Nummer von Maria. Milde enttäuscht legte er das Gerät auf die Küchenzeile. Wahrscheinlich ein Spamanruf. Alle wichtigen privaten Nummern hatte er eingespeichert und berufliche Anrufe gingen auf sein Dienst-Handy ein, auf diese ebenso teure wie fragile Mischung aus Glas und Aluminium. Mitglieder der Online-Redaktion mussten jederzeit online sein, hatte man ihm gesagt. Pfeiffer schüttelte den Kopf. Die Online-Redaktion. Das würde er Magnus nie vergeben. Online-Redaktion und das nach all den Jahren.
Er griff die Packung Kaffeepulver und füllte damit eine vergilbte Filtermaschine, ohne Löffel und nach Augenmaß. Hauptsache stark. Das Handy klingelte nervtötend, er blockte den Anruf ab und kümmerte sich weiter um sein Lebenselixier. Sein Kaffee war keine Kunst, er war ein Instrument, eine Medizin und in dieser Haltung unterschied sich Pfeiffer von seinen neuen Kollegen, die aus der braunen Suppe ein Lifestyle-Produkt machten. Wer keinen Flat-White trank, war outdated, das hatte er schnell begriffen. Um sein eigenes Outdated-Sein trotzig zu unterstreichen, hatte Pfeiffer deshalb vor drei Monaten die kleine Filtermaschine mitgebracht. Sie war ein Symbol des alten Geistes, eine Verbündete aus Zeiten, da in der Redaktion der Kaffee literweise getrunken worden war und die Konferenzräume den kalten Odeur von harter Arbeit und Zigarettenrauch verströmt hatten. Pfeiffer betätigte den Knopf und die Maschine röchelte los. Ein Anachronismus wie er selbst, Abgrenzung von der Generation Siebträger mit ihren Ungetümen aus Chrom.
Das Telefon klingelte erneut. Er nahm das Handy und hielt es unschlüssig in der Hand. Vielleicht doch Maria, die von einer neuen Nummer aus anrief, aber nein, das war unwahrscheinlich. Obwohl.
»Pfeiffer«, meldete er sich.
»Ich weiß«, antwortete eine Männerstimme. Sie klang tief und selbstsicher. »Christian Pfeiffer vom Frankfurter Generalanzeiger. Onlineredaktion, FGZ.NET. Gehen Sie zu Ihrem Rechner.«
»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Privatnummer?« Der Kaffee lief tröpfchenweise durch.
»Das tut nichts zur Sache, Christian Pfeiffer. Aber ich habe da etwas für Sie. Eine große Story. Interessiert? Dann gehen Sie zu ihrem Rechner.«
Pfeiffer hob die Augenbrauen. Klang nach einem Wichtigtuer, womöglich ein Scherzanruf seiner neuen Kollegen. Seiner ›Kolleg*Innen‹, wie sie selber sagten. Andererseits, dachte er, sollte kein Journalist auflegen, wenn jemand von einer großen Story sprach, am wenigsten er selbst. Und immerhin war der Kaffee fast durchgelaufen.
»Also gut, warten Sie einen Augenblick«, sagte er, schob sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und goss sich das braune Glück in einen Pott.
»Beeilen Sie sich, wir haben beide nicht viel Zeit. Sehen Sie in Ihre Emails.«
Pfeiffers Augenbrauen wanderten noch weiter Richtung Stirn, er nahm den Kaffee und ging ins Großraumbüro, nein, in den Coworking-Space. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz, direkt nebem dem Fenster und mit Ausblick auf den langgezogenen Europagarten. Die Bäume, die rings um dieses grüne Rechteck angeordnet waren, trugen erste herbstlich gelbe Blätter. Eine Oase inmitten grauen Steins.
Er war allein, als er den Bildschirm anschaltete und sich anmeldete. Im Coworking-Space gab es an einem Sonntagvormittag keine Coworker, die waren unterwegs oder saßen im Homeoffice. Er öffnete das Email-Programm. Neben zahllosen ungelesenen Nachrichten ploppte die Mitteilung einer neuen Mail auf, Absender qvu61039[at]kasor.com 1. Eine Wegwerf-Adresse, darin ein Link zu einem Cloudspeicher.
»Sie wollen, dass ich auf einen unbekannten Link von einer Spam-Adresse klicke?«
Die Stimme am Telefon lachte leise. »Ich bin kein nigerianischer Prinz, der Ihnen 3 Millionen Dollar überweisen will. Sie werden ein Video herunterladen. Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.«
Einen Moment zögerte Pfeiffer. Wie ironisch, wenn ausgerechnet er, der vom großen Magnus in die Online-Redaktion strafversetzt worden war, einen Virus herunterlud. Aber eine Story war eine Story. Er klickte. Ein kurzer Download, das Virenprogramm blieb stumm, dann öffnete sich ein Video. Eine gute Minute lang, aufgenommen im Hochkant-Format, wie diese ganzen grässlichen Social-Media-Schnippsel. Leicht verwackelt sah er ein Haus, zwei Männer schritten darauf zu, einer unsichtbar hinter der Kamera und ein älterer Graubart. Sie klingelten und nach kurzem Warten wurde die Tür eine Handbreit geöffnet. Das Bild zoomte auf den verdutzten Hausbesitzer. Ein rundliches Gesicht mit fliehendem Haaransatz war im Türspalt zu erkennen, dazu ein Sonntagsanzug und eine lächerliche Krawatte, die ihm vom Hals baumelte. Pfeiffer erkannte goldene Euro-Zeichen auf grünem Grund, als hielte der Hausherr sich für den Wolf of Euro-Wallstreet. Dann schwenkte die Kamera auf den Alten. Es folgte ein Dialog, ein absurdes Gespräch.
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, hörte Pfeiffer plötzlich die Stimme seines Anrufers auf dem Video. »Sie haben das Geld und er braucht es.«
Ihm wurde der Mund trocken, er ahnte, worauf dieses Video hinauslief, wusste es, bevor er den Schuss hörte und das Blut sah.
»Wo ist das aufgenommen worden? Und wann?« Seine Stimme war ruhig, professionell, jahrzehntelang trainiert, die freie Hand hatte automatisch nach Kugelschreiber und Block gegriffen.
»Das werden Sie erfahren«, sagte die Anruferstimme. Dieselbe, die auf dem Video den Hausbesitzer anschrie. »Doch zuerst tun Sie mir einen Gefallen. Laden Sie das Video auf dem Social-Media-Account Ihrer Zeitung hoch. Den Hashtag überlasse ich Ihnen, Christian Pfeiffer.«
»Sie sind verrückt!«
»Nein. Und sie haben zwei Minuten. Die Zeit läuft.«
»Auf keinen Fall«, sagte Pfeiffer mit aller Endgültigkeit, zu der er fähig war.
»Ich dachte mir, dass Sie so reagieren. Doch es ist wichtig, dass jeder Mensch die Chance hat, Zeuge zu sein. Noch eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden.«
»Sagen Sie mir, wer Sie sind.«
»Später. Zuerst etwas anderes. Wenn Sie in exakt 110 Sekunden das Video nicht hochgeladen haben, wird sich noch eine Person erschießen. Ihre Entscheidung, Christian Pfeiffer.«
Auf dem Computer-Bildschirm war das Ende des Videos als Standbild zu sehen. Der Grauhaarige mit einem roten Loch, wo vorher sein Mund gewesen war, inmitten einer Blutlache. Pfeiffer spürte, wie sein Atem schneller ging, wie der Magen sich zusammenkrampfte.
»Wer? Wo?«
»Das sind gute Fragen, wenn man noch eine Minute und vierzig Sekunden Zeit hat«, sagte die Stimme im Telefon. »Blicken Sie doch mal aus dem Fenster, direkt hinunter zur Straße vor dem Europapark. Sehen Sie die Frau im roten Mantel?«
Er stand auf, spähte hinab und suchte die Straße ab. Sein Atem erzeugte einen kleinen Kondensbeschlag auf der Scheibe. Dann fand er sie, eine Frau, roter Mantel, schwarze Haare. Sie verharrte steif in aufrechter Pose und erinnerte Pfeiffer an ein Mannequin.
»Sehen Sie genau hin«, sagte die Stimme. »Sie braucht ihre Hilfe, sonst lebt sie nur noch exakt 84 Sekunden. Doch lassen Sie mich nachhelfen.«
Einen Augenblick später hob die Frau zögerlich ihren Kopf, sah den Bürotower hinauf, in dem Pfeiffer stand. Ihr Blick schien über die Glasfassade zu gleiten und blieb an ihm hängen. Sie sah ihn an, die Wangen bleich. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Maria«, keuchte er.
»Oho, sie haben sie erkannt!«, sagte die Stimme. »Dann genießen Sie noch eine Minute lang den Anblick oder laden Sie das Video hoch.«
»Sofort«, antwortete Pfeiffer, »alles, was sie wollen.« Er öffnete den Browser, gab die Website ein. Unendlich langsam baute sie sich auf. Er tippte den Accountnamen, verschrieb sich, klickte mit der Maus an die falsche Stelle. Das Passwort, er kannte es, hatte es sich irgendwo aufgeschrieben, obwohl das verboten war. Wo war der verdammte Zettel? Er brauchte es nie, Posts setzten die jungen Kollegen ab, nicht er.
»45 Sekunden.«
»Ich mache es, ich mache es«, schrie er in den Hörer.
Bei 30 Sekunden fand er den Zettel. Bei zwanzig hatte er das Passwort eingegeben.
»Wo lädt man hier ein Video hoch, Scheiße, verfluchte Scheiße«, murmelte er.
»Sind Sie kein Online-Redateur, Christian Pfeiffer?«, fragte die Stimme höhnisch. »15 Sekunden.«
Er fand den richtigen Knopf auf der Website bei 12 Sekunden. Bei fünf Sekunden schob er die Datei vom Download-Ordner in den Browser.
Bei einer Sekunde war das Video hochgeladen und er drückte auf veröffentlichen.
Bei null hörte er den Schuss.
»Bedauerlich«, sagte die Stimme im Telefon. »Ihr Journalisten kümmert euch nicht um die Probleme der Menschen. Und wenn ihr es doch tut, dann nur aus Eigennutz und zu spät.«
Pfeiffer fiel das Handy aus der Hand, es prallte auf den Schreibblock, hüpfte zur Seite und blieb neben dem Kaffeepott liegen, der stumm vor sich hin dampfte.


Postet hier ab Sonntag, den 01.12. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte weitergeht …

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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#52 von petias , 03.12.2024 11:26

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 3. Teil

Das ist größer
von Peter Matthias


Maria Sedlacheck stand vorne am Flipchart. Am großen Flachbildschirm an der Wand hinter ihr waren Fotos der beiden Toten zu sehen.
„Ich fasse noch mal zusammen: Wir haben den toten 68-Jährigen Frank Sander. Er war ein Wohnungsloser, der in der Obdachlosenunterkunft im Ostpark wohnte. Bis auf ein paar kleine Ladendiebstähle ist er nicht polizeibekannt.
„Wurden die Mitbewohner befragt?“, fragte jemand aus der Gruppe der Zuhörer.
„Ja, einige. Aber natürlich nicht alle. Es leben derzeit 130 Leute in dem blauschimmernden Monstrum in der Ostparkstraße 16. Aber es hat keine besonderen Vorfälle gegeben. Franky war recht beliebt und tat für ein paar Euro fast alles. Er wurde letzte Woche in Begleitung eines jüngeren Mannes, bekleidet mit Kapuzenpulli und schwarzer Jeans gesehen. Aber niemand konnte ihn näher beschreiben, schon gar nicht sein Gesicht.“

Jetzt meldete sich Hauptkommissarin Furtler zu Wort. Sie leitete die Ermittlungen. Noch! Es wurde bereits überlegt, eine Sonderkommission einzurichten, und wer die leiten würde, stand noch in den Sternen. Diese Sache hier drohte größer zu werden.
„Es ergaben sich auch keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen den beiden Opfern Frank Sander und Maria Weinportner. Fahren sie fort Mary!“

„Ja, gerne! Der vermutliche Täter, oder zumindest einer davon, ist ein Mann um die 30. Er wird von dem bislang einzigen Zeugen, Herrn Berger, auf ca. 1,80 Meter geschätzt. Er trug Jeans und ein dunkles Lederjackenimitat.
Das bringt uns zu unserem zweiten Fall. Die Freundin von Herrn Pfeiffer, Maria Weinportner, wurde ebenfalls dazu gebracht, sich zu erschießen. Herr Pfeiffer ist sich sicher, dass die Stimme vom VIdeo, das er gezwungen wurde zu veröffentlichen, und die seines Erpressers identisch sind.“
„Was macht sie so sicher, dass das keine freiwilligen Selbstmorde waren?“, fragte ein ca. 55-Jähriger im weißen Kittel, der dem Forensik Team angehörte.
„Zum Einen“, antwortete Mary bereitwillig, „wurde in beiden Fällen keine Waffe gefunden. Zudem zeigten der Obdachlose und auch Frau Weinportner Angst und deutliche Stresssymptome und schienen zudem unter Drogen zu stehen.“
„Kein Beweis!“, widersprach der Weißkittel. „Auch Selbstmord ist Stress. Aber tatsächlich fanden wir einen Medikamentencocktail im Blut beider Toten, vermutlich mit der gleichen Zusammensetzung, aber das müssen wir noch weiter untersuchen.
Dass die Waffe fehlt, besonders im Fall der Frau, wo kein zweiter Mann neben dem Opfer zu sehen war, würde ich auch als deutliches Indiz Interpretiren.“
„Danke Karl-Heinz“, Frau Furtler schaltete sich wieder ein. „Könnt ihr schon was zur Tatwaffe sagen?“
„Vermutlich eine 9 Millimeter Beretta, es könnte dieselbe Tatwaffe sein.“

Frau Furtler stand auf, ging nach vorne und stellte sich neben Mary und übernahm.
„Eine Aussage von Herren Berger, dem Inhaber eines Reisebüros aus dem ersten Fall, ergab eine mögliche Spur, der wir nachgehen müssen.
Herr Berger kann sich vorstellen, dass es Verbindungen zu einem „Wie-werde-ich-schnell-reich-Seminar gibt, an dem er vor einigen Monaten teilgenommen hatte. Interessanterweise war einer der Teilnehmer der Chef von Herrn Pfeiffer aus dem zweiten Fall, Magnus Overath. Das kann natürlich Zufall sein, aber wie sie wissen, glaube ich nicht an Zufälle. Wir sollten die Teilnehmer des Seminars mal durchchecken.“

***

Enzo saß im Behandlungszimmer des Psychiaters Jens Hundertreich. Er hatte gerade eine Spritze in die Armbeuge bekommen und presste sich den Wattebausch auf die Einstichstelle. Er trug Jeans und einen Kapuzenpulli. Das Telefon klingelte.
Der Psychiater nahm ab: „Hundertreich“
„Polizeipräsidium Frankfurt am Main, Maria Sedlacheck ist mein Name. Herr Hundertreich, wie haben im Frühjahr des Jahres ein Seminar geleitet mit dem Titel: <Sie wollen mehr? Machen sie es wie ich, werden sie reich! Ich zeige ihnen wie.>
Wir hätten in dem Zusammenhang ein paar Fragen. Können sie morgen um 9 Uhr ins Polizeipräsidium Adickesallee 70 kommen?“



Ich vermisse spannende Elemente. – Suse 1 Tag
1

@Suse da sagst Du was! Ich vermisse auch so manches. Z.B. wird bei mir zu wenig Kaffee gekocht und getrunken ;-) – petias 1 Tag
1

Also mir gefällt's :blush: – EffEss 1 Tag

Ergänzend: Ich habe auch die Theorie, dass irgendein schwacher Mensch angestiftet wurde, im Auftrag von jemand anderen den Selbstmorderpresser zu spielen. Das haben nur wenige so gesehen und fortgesetzt. Spannend, für mich war es glasklar diese Schiene. – EffEss 1 Tag
1

Danke für die Kommentare! Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Frau/Mann mit spektakulären Wendungen und spannenden Szenen punkten möchte und das klappt auch. Aber bei so einer gemeinsamen Geschichte würde es, finde ich, der Geschichte helfen, Wenn man sie auch gemeinsam vorantreibt. Zu einer Kriminalgeschichte in Frankfurt gehört auch etwas Polizeiarbeit finde ich, zumindest noch. Aber ich lese alles gerne. – petias 1 Tag

Ich finde deine Polizeiarbeit gut – Bommel 23 Stunden

Ich möchte nicht, dass die Geschichte "so" weitergeht, aber m()ein Buch verdient sie allemal! Flüssig, logisch usw. LG von mir – Kick 22 Stunden

Interessant geschrieben, die Hintergrundinformationen zu der Ermittlerin finde ich gut. Eine harmonische Version der Fortsetzung. Ein Büchlein :closed_book: von mir :rose: – Ligo_Sommer 9 Minuten


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zuletzt bearbeitet 04.12.2024 | Top

RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#53 von petias , 06.12.2024 10:41

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 3. Teil Siegergeschichte

ohne Titel

von Linna

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen stand Christian Pfeiffer an Marias Grab, den abgewetzten Fedora tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen. Es regnete, wie so oft in den vergangenen Tagen. Dicke Tropfen prasselten auf die Chrysanthemen herab, die Marias Mutter erst gestern vor den Grabstein gelegt hatte.
„Es war nicht deine Schuld, Christian.“ Sanft hatte die alte Dame ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt.
Sie hatte recht. Doch nicht jede Wahrheit fühlte sich auch wahr an. Und dass die Polizei dem eigentlichen Täter noch keinen Schritt nähergekommen war, machte es nicht besser. Immer wieder durchlebte Pfeiffer diese letzte Sekunde. Träumte sie, atmete sie, schmeckte sie bitter auf seiner Zunge, spürte sie brennend in seiner Brust. Die Sekunde seines Versagens.
„Ich werde eine Weile nicht kommen, Maria“, sagte er leise. „Ich muss etwas erledigen. Für dich. Für mich.“
Er würde Maria erst wieder besuchen, wenn ihm gelungen war, was er sich vorgenommen hatte. Oder wenn man ihn neben sie zur Ruhe legte. Auch das war ein mögliches Ergebnis der Nachforschungen, die er heute beginnen würde, da machte er sich nichts vor. Doch forschen würde er. War er nicht Journalist?
Er wandte sich ab, ging zu seinem Auto und zog den verknitterten Zettel mit der Adresse aus seiner Tasche.

_

„Kaffee?“, fragte Frau Berger. „Ich kann Ihnen Cappuccino, Espresso, Latte Macchiato…“
„Nein, einfach Kaffee, bitte. Ohne alles.“ Aufmerksam sah Christian Pfeiffer sich im bergerschen Wohnzimmer um. Es hier bis auf das cremeweiße Ledersofa zu schaffen, hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet.
„Sie wollen also mit mir sprechen, von Opfer zu Opfer“, sagte Herr Berger, der ihm gegenübersaß. Mit einem Ausdruck tiefer Müdigkeit in den Augen.
„So ist es.“
„Die eigentlichen Opfer waren wohl der Mann mit dem Bart und Ihre Freundin, Maria.“
„Ja. Das ist richtig. Dennoch … stimmt es nicht, dass man Sie belästigt, seit dieses Video viral gegangen ist? Die Kommentare in den Social Media können Sie vielleicht ignorieren. Doch ich sah Reste von Eiern und Sprühfarbe an Ihrer Fassade. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich kaum noch vor die Haustür wagen. Dass nichts mehr ist, wie es war.“
Das kleine Schaudern, das sich durch Bergers Schultern zog, sagte Pfeiffer, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Letzte Woche wollten wir zum ersten Mal wieder essen gehen.“ Frau Berger setzte die Kaffeetassen auf den Glastisch. „Da hat jemand Richard erkannt und nannte ihn einen Mörder. Aber das ist er nicht. Können Sie ihm das klarmachen?“
„Ich hätte das Geld gehabt, Dorothea. Hier in unserem Safe. Für Notfälle.“ Herr Berger wirkte kurz etwas verloren und seine Frau streichelte ihm mitleidig über die Schulter.
„Ich kann Ihnen ebenso wenig Absolution erteilen, wie Sie mir, Herr Berger.“ Pfeiffer griff nach dem kleinen Notizblock in seiner Innentasche. „Aber ich will für Gerechtigkeit sorgen, indem ich die Wahrheit aufdecke. Sie haben von Angesicht zu Angesicht mit dem Täter gesprochen, darum fange ich hier an. Ich habe einige Fragen vorbereitet und …“ Er hielt inne, als es an der Tür klingelte, und ihn beschlich ein ungutes Vorgefühl.
Dorothea ging, um aufzumachen, und kam nur Augenblicke später zurück ins Wohnzimmer. Mit einem kleinen, braunen Päckchen. Es hätte vor der Tür auf dem Plattenweg gelegen.
Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie es auf den Salontisch legte. Vorsichtig, als könnte es jeden Augenblick in die Luft gehen. Das bange Vorgefühl schien nun auch die Bergers erfasst zu haben.
„Hatten Sie etwas bestellt?“ Pfeiffer kannte die Antwort schon, ehe seine Gastgeber den Kopf schüttelten. Auf dem Päckchen stand ja nicht einmal eine Adresse.
Ohne noch lange zu zaudern, riss er es auf und fand einen USB-Stick.
„Bring ihm doch mal den Laptop, Dorothea“, sagte Berger erstaunlich gefasst. „Er arbeitet in einer Online-Redaktion und ist Experte für sowas.“
Experte, ja genau. Da war es wieder, dieses bittere Brennen. Eine Sekunde. Wäre er eine Sekunde schneller gewesen … Nein, diese Gedanken nützten jetzt nichts. Um den Inhalt eines USB-Sticks zu öffnen, war er jedenfalls Experte genug.
Zwei Dateien. Pfeiffer klickte auf das Word-Dokument und las die erste Zeile.
An Richard Berger und Christian Pfeiffer
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Furcht des Jagdwilds, die erwartungsvolle Aufregung des Jägers. Er empfand beides gleichzeitig. Sein Feind war ihm einen Schritt voraus. Wusste, wo er war, und ahnte sicherlich warum. Würde vielleicht erneut versuchen, ihn zu benutzen, wie ein grauenhafter Puppenspieler. Doch diesmal war Pfeiffer darauf vorbereitet und gewillt, alles zu riskieren.
„Nein“, flüsterte Frau Berger, die gemeinsam mit ihrem Mann über Pfeiffers Schulter gebeugt mitlas.
Eine Adresse stand dort. Irgendwo im Industriegebiet. Zusammen mit der Aufforderung, pünktlich um 20:05 dort zu sein. Er und Berger beide. Es folgte die wenig überraschende Warnung, keine Polizei hinzuzuziehen.
Seine Gedanken rasten. Waren er und Richard Berger keine zufälligen Opfer? Gab es etwas, was sie verband, und hatte der Täter nur darauf gewartet, dass sie endlich zusammenfinden würden? War diese ganze Sache vielleicht persönlicher, als er gedacht hatte?
Er klickte auf die zweite Datei. Ein Video diesmal.
Da war eine graue Betonwand. Schnelle, flache Atemgeräusche, die nichts Gutes erwarten ließen. Die Kamera schwenkte zu einer Frau. An Armen und Beinen gefesselt lag sie am Boden, den Mund mit Panzertape zugeklebt, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Ihr Haar war verfilzt und ihr Kleid beschmutzt, als wäre sie schon länger in Gefangenschaft.
„Oh Gott!“, rief Dorothea.
„Marlene!“, riefen Pfeiffer und Berger gleichzeitig. Dann sahen sie sich fassungslos an.


Ich habe einen Kommentar darunter geschrieben (es gibt mehr als 30):
​Ich hatte bisher "Fedora" mit einer Linux-Version verbunden. Google hat mich dann erhellt, dass das ein Hut-Type ist, so in Richtung Cowboy und Chuck Norris. Dachte immer, das ding hieße "Stetson". Danke für die Erweiterung meines Horizontes! Natürlich bekommst Du von mir auch ein "Like" schon zur Absicherung des Ergebnisses, denn ich muss meine Geschichte schon heute schreiben. Ab Nachmittag bis Sonntag Abend bin ich anderweitig beschäftigt! Glückwunsch schon mal vorweg! – petias 27 Minuten ​ ​

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RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#54 von petias , 10.12.2024 13:29

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 4. Teil

Um meinen Schmerz zu ehren, will ich die Welt zerstören
Von petias


„Wer ist Marlene?“
Dorothea Berger sah ihren Mann fragend an.
„Die war eine Teilnehmerin in dem Börsenseminar, das ich vor einigen Monaten besucht hatte. Sie war mit einem Magnus dort gewesen.“

„Ja, Magnus Overath, mein Chef!“, mischte sich jetzt auch Christian Pfeiffer ein. „Magnus hatte Marlene in die Redaktion gebracht und war eine Zeit lang seine Freundin. Sie hat vor zwei Monaten überraschend gekündigt. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

„Marlene hatte sich mit dem Leiter des Seminars, einem Jens Hundertreich, angelegt. Sie stellte seine Methoden, ja alle Versuche an leistungsloses Einkommen, das <<Schnelle Geld>>, wie sie es nannte, als unmoralisch und und unethisch hin“, erinnerte sich Richard Berger.
„Der Seminarleiter hatte das von sich gewiesen und erklärt, dass er dazu stehe, dass er schnell reich werden wolle. Das wäre in unserer Gesellschaft nicht verwerflich, so wären die Gesetze. Als unmoralisch sah er die an, die sich heuchlerisch als gut bürgerlich und menschenfreundlich verkaufen, sich aber einen Dreck um notleidende Mitmenschen scheren würden.“

„Marlene und Magnus hatten diesen Hundertreich mit ihren Beiträgen in der FGZ unmöglich gemacht und ihn aus dem dubiosen <<WIE WERDE ICH SCHNELL REICH>>-Markt gedrängt“, ergänzte Pfeiffer.

Dorothea fasste zusammen: “Mein Mann, diese Marlene und ihr Freund und Chef, beide von der FGZ besuchen ein Seminar. Der Leiter wird diskreditiert. Ich erinnere mich noch, wie Richard ihn online angegangen ist. Er hatte sich darüber lustig gemacht, dass Hundertreich eigentlich von Beruf Psychiater wäre.“
Herr Berger nickte zustimmend.
Pfeiffer fuhr fort: „Dann will sich der Seminarleiter an den kritisierenden Teilnehmern seiner Veranstaltung rächen und die Toten und ich sind nur Kollateralschäden?“

„Das ist doch zu verrückt um wahr zu sein!“
Herr Berger schüttelte den Kopf.
„Einen Menschen zu zwingen, sich umzubringen, um einen anderen damit zu erpressen, das ist verrückt, zutiefst pervers! Einfach krank!“ Christian konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

„Jedenfalls gibt es keinen Grund zu diesem Termin um 20:05 Uhr, irgendwo im Industriegebiet, aufzutauchen! Zumindest nicht ihr beide!“, stellte Frau Berger erstaunlich entschlossen fest.

„Aber die Polizei sollte das tun“, sagte Herr Berger und griff zum Hörer.


***

Kurz vor 20 Uhr hatte eine Sondereinheit der Polizei die fragliche leerstehende Industriehalle umstellt. Pünktlich im 20 Uhr flammte ein Projektor auf, der ein überdimensionales Bild auf die gegenüberliegende Gebäudewand warf. Marlene Curo tanzte leicht bekleidet auf einer Bühne, eingesperrt in einen großen Raubtierkäfig in der Form einer Voliere. Sie tanzte mit einer Schlange, die sie sich anmutig um Körper und Arme legte.

Die bereits bekannte Stimme des bisher in Erscheinung getretenen Täters erschallte, vielfach verstärkt, durch die Nacht.

„Ihr seid zu früh! Die Polizei habe ich erwartet, aber meine Bedingungen sind nicht erfüllt. Den Tod der Schlangenbeschwörerin haben sich Pfeiffer und Berger auf ihr Gewissen zu buchen.
Diese Nachricht geht um die Welt auf vielen Online-Kanälen. Es wird ein neues Zeitalter eingeleitet.
Marlene, die sich gleich durch den Biss einer Viper töten wird, ebenso wie die anderen Selbstmörder, stehen unter dem Einfluss einer Droge. Sie besteht aus Nano-Bots, die geheime Ingredienzen im Körper verteilen. Das macht das Opfer zu einem programmierbaren Zombie, den man mittels Hypnose zu allem veranlassen kann.

Diese Droge ist ab jetzt für jeden käuflich zu erwerben. Findet unter dem Begriff <<Zombiedrug>> und ähnlichen Begriffen die für euch geeignete Bezugsquelle. ...“

Die Polizeieinheit war in das Gebäude eingedrungen. Sie fanden die Bühne und den Käfig mit der Tänzerin darin, waren aber nicht in der Lage, die Eisenstäbe rechtzeitig zu entfernen.
Ein Millionen-Publikum sah zu, wie die Tänzerin sich die Viper – wie von Kleopatra, der Herrscherin Ägyptens berichtet wurde – an den Busen setzte und das Tier durch drücken mit der Hand dazu reizte, sie zu beißen. Die Frau mit den glasigen Augen glitt geradezu anmutig zu Boden und wand sich dann in offensichtlichen Qualen. Unter Röcheln trat weißer Schaum aus ihrem Mund. Die Bewegungen wurden langsamer und erstarben schließlich ganz. Der Kopf war nach hinten gebeugt, die Augen weit aus ihren Höhlen getreten.


Kommentare

Völlig verrückt, aber gut vorstellbar :joy: – EffEss 19 Stunden

Völlig verrückt finde ich es auch, aber im Gegensatz zu EffEss gar nicht vorstellbar. Das ist mir zu konstruiert. – Suse 17 Stunden

Danke EffEss! Suse, das liegt daran, dass meine Inhalte zwischen den Doppelpfeilen <<>> verschluckt wurden, obwohl sie Payrus 12 und mein Forum-Editor korrekt anzeigen. Musste ich korrigieren. Versuche es nochmal! ;-) – petias 16 Stunden

ich schliesse mich EffEss .. jetzt auch nicht konstruierter als Fitzek im Joshua-Profil :-) – J-RO 12 Stunden
1

Ich bin zweigeteilt wie der Text. Der zweite Abschnitt ist für mich richtig stark. Grade der letzte Absatz ist ebenso eindringlich wie unheimlich geschrieben. Der erste Abschnitt hat mich etwas ratlos zurückgelassen. Interessanterweise hast du es mit dem zweiten Satz des zweiten Abschnitts aber geschafft, mich sofort in die Geschichte zurückzuholen. Das Bild der Projektion ist hier in der Szene, wie ich sie mir vorstelle, sehr prägnant und geheimnisvoll. Gerne ein Buch für einen tollen zweiten Abschnitt. – montypillepalle 12 Stunden

Ich bin da ganz bei monty. Der erste Teil würde wesentlich besser funktionieren, wenn du ihn erzählen würdest. Die Dialogform finde ich da ungeeignet, weil es den Stress so nicht wiedergibt, unter dem die drei doch stehen sollten. Der zweite Teil ist klasse. Ich liebe dieses Bild von der Tänzerin mit der Schlange. :star_struck: – Anachronica 11 Stunden

Im Grunde bietest du zwei Erklärungen für das bisher Geschehene an. Die Kränkung von Hundertreich und die Vermarktung von den Drogen-Bots. Ich würde mich auf eine davon beschränken. Die Szene mit der Polizei, die das Gebäude stürmt und zu spät kommt finde ich spannend. Die würde ich vielleicht an den Anfang stellen, um gleich Spannung aufzubauen und dann eine reine Action Szene schreiben, die am Ende in die Durchsage mündet. Die Szene mit der Schlange finde ich sehr gruselig. – Inkspot 11 Stunden

Hab noch was vergessen. Gibt zwar keine Extrapunkte, aber ich finde deine Überschrift erwähnendwert gut. Ich steh ja auf sowas. Schön psycho. – Anachronica


Danke fürs Lesen und für die Kommentare! Ein Grund, wenn auch keine Entschuldigung für die Zweiteilung der Geschichte ist die Notwendigkeit der Integration der neuen offiziellen Folge und meine Erklärungsansätze. Ich habe das in Dialogform versucht, was anscheinend nicht so gut gelungen ist. Der zweite Teil gibt mir die Freiheit kreativer Fortentwicklung, was gewohnter ist und leichter fällt. Ein weiterer Grund für die Zweiteilung ist eine Teilung in die Gründe der Auswahl konkreter Personen, was aber nur wenig mit den grundsätzliche Tiefgründen einer kranken Persönlichkeit zu tun hat. – petias 30 Minuten

@Anachronica Danke für die konstruktive Kritik! Der Stress, den Du erwartest, ist allerdings nicht so groß. Die aktuellen Morde sind Wochen vergangen, die Toten bereits beerdigt. Das neue Opfer steht nur in lockerer Beziehung (ich nehme da bewusst Druck heraus, weil ich einen anderen Fokus habe) Zu den bisherigen Protagonisten. Sich der Gefahr die Forderung zu erfüllen auszusetzen, wird als Unsinn erkannt und abgelehnt. Man hätte nichts tun können, als die Polizei zu verständigen, was man auch hat. Die Protagonisten selbst oder die Frau oder alle wären mit Sicherheit tot gewesen. – petias 19 Minuten

Du bist nicht zufällig ein Fan von Fritz Lang? Also diese "Mata Hari" Ambience - not bad, really not bad. :bool: for ... – hartmut 19 Minuten

@Inkspot Danke für Deine konstruktive Anregung. Allerdings bin ich da in der Bredouille. Die Kränkung des Psychiaters ist eine Erklärung der Auswahl der Personen, die auch hätten andere sein können. Aber das Instrumentalisieren der Ermordung unbeteiligter Menschen, das Freigeben und Verteilen der Zombiedroge wobei es gar nicht so sehr ums Geld geht - der Mann ist erfolgreicher Finanzjongleur - enthüllt eine Dimension menschlicher Abgründe, die nicht mit kleinen Eifersuchtsdramen oder Kindheitskränkungen zu erklären sind. – petias 7 Minuten

@hartmut Danke Hartmut, nein, Fritz Lang war mir bis eben kein Begriff, bis ich in gegoogelt habe – petias 5 Minuten

Für die Abschlussgeschichte wird es fürchte ich, noch mehr Teilungen und Spannungsabfälle geben. Wenn man die Vorgaben ernst nimmt, dann fehlt noch eine Behandlung der moralischen Frage, die von Eschbach ins Spiel gebracht wurde, wie man mit Erpressern umzugehen hat im Spannungsfeld von Fürsorge, Schuld und Eigennutz. Das ist es, was ich mir, neben einem runden Abschluss, nein zu einem runden Abschluss, für die letzte Folge vorgenommen habe. – petias gerade eben ​ ​


Versuche es nochmal! ;-) -- Ja, das mache ich jetzt sofort. -- Ist erledigt. Liest sich jetzt besser. Wie auch schon die anderen sagten, der erste Teil ist nicht überzeugend gelungen. Da hättest du mehr erzählen können. Für den zweiten Teil bekommst du ein Büchlein von mir. -- jetzt auch nicht konstruierter als Fitzek: Für mich ein Negativbeispiel. – Suse 2 Stunden

@Suse Danke! – petias gerade eben ​ ​


übrigens die Suse ist die Susanne Kowalski, die als Sukowa schon bei uns im Forum einige Geschichten und Kommentare geschrieben hat.


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zuletzt bearbeitet 11.12.2024 | Top

RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen ...

#55 von petias , 13.12.2024 11:57

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 4. Teil Siegergeschichte

Der Unbekannte
von montypillepalle

Christian Pfeiffer hatte darauf bestanden, dass sie mit seinem alten Opel fuhren, weil das Video Richard Berger sichtlich mitgenommen hatte. Jetzt rauschten sie durch die Dämmerung der Stadt und Pfeiffer versuchte in seinem Gedanken, die losen Fäden zu greifen, die mit Marias Tod verbunden waren. Einer dieser Fäden war Marlene Romero, die Pastorin, eine Freundin von Maria, die Maria und ihn vor einem Jahr getraut hatte – und die, wie sich herausgestellt hatte, die Schwester von Richard Berger war.
»Marlene ist ein großartiger Mensch, gütig, selbstlos.« Berger wirkte, als wäre er den Tränen nah und Pfeiffer konnte es ihm nicht verdenken.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor einer Woche. Sie hat mich besucht, mir Trost gespendet. Doro und ich gehen sonntags nicht mehr in die Kirche.«
Das Gespräch erstarb. Berger trommelte leise und stakkatoartig auf der Plastikverkleidung der Beifahrertür und starrte durch die Frontscheibe auf die Straße. Pfeiffer bezweifelte, dass der Reiseveranstalter seine Umgebung wahrnahm. Noch im Hause der Bergers hatten sie diskutiert, ob sie trotz der Warnung die Polizei einschalten sollten. Dorothea hatte versucht, auf ihren Mann einzuwirken, aber Richard Berger hatte sich geweigert, wollte das Leben seiner Schwester nicht gefährden. Pfeiffer hielt das für einen schweren Fehler, doch wäre es um Maria gegangen… er brach den Gedanken ab. Stattdessen wühlte er in seinen eigenen Erinnerungen danach, was ihn selbst mit Marlene Romero verband. Ihm fielen Abendessen ein, Partys, die Maria organisiert hatte, aber nichts, was einen Verrückten dazu treiben konnte, die Pastorin zu entführen.
»Er hat Sie einen Ausbeuter, einen Kapitalisten, genannt, mir hat er vorgeworfen, Journalisten kümmerten sich nicht um die Probleme der Menschen. Gibt es etwas, dass Marlene getan haben könnte, was die Aufmerksamkeit des Täters geweckt hat?«
Richard Berger schien wie aus seinen Gedanken gerissen, er kratzte sich den stoppeligen Kinnbart, dann schüttelte er den Kopf, wie einer, der nicht wusste, was er denken sollte. »Ob es etwas gibt, was man der evangelischen Kirche vorwerfen kann? Sicher. Aber hätte er dann nicht genauso gut einen katholischen Priester entführen können?«
Pfeiffer nickte unbestimmt und fand keinen Ansatz, die Fäden zu verbinden. Maria, Marlene Romero, die Bergers, er selbst. Wenn es darum ging, Symbole für einen Werteverfall, für Fehler im System auszuwählen, warum dann gerade sie? Die Ahnungslosigkeit setzte sich wie ein Geschwür in Pfeiffers Kopf fest, der Täter war ihnen voraus, sie stolperten ihm blind hinterher.
Sie überquerten die Leunabrücke, die Uhr des Opels zeigte 19:31 Uhr. Linker Hand erstreckten sich nun kahle Felder, rechter Hand das Industriegebiet. Pfeiffer folgte dem Navigationsgerät durch einen Kreisverkehr und in das Labyrinth aus Bürogebäuden, Fabrikhallen, Schornsteinen und Gasleitungen. Eine Weile fuhren sie geradeaus, der einsetzende Sprühregen und die schwachen Laternen verwandelten das Straßenbild in eine Art apokalyptisches Detroit. Sie erreichten ihr Ziel in der Nähe einer Ansammlung riesiger Gas-Tanks und langgezogener Lagerhallen, die von einem stabilen Gitterzaun abgesperrt wurden. 19:43 Uhr. Sie stiegen aus, Pfeiffer setzte seinen Fedora auf und sah sich um. Es gab in der Nähe keinen Eingang und Stacheldraht verhinderte, dass man auf das Gelände klettern konnte, doch zwanzig Meter weiter erkannte er einen Zettel, der in einem Plastikumschlag an den Zaun gebunden war. Ein Pfeil war darauf zu sehen, der die Straße hinunter deutete und außerdem die Zahlen: 20:05.
»Ob das eine makabere Schnitzeljagd wird?«, dachte Pfeiffer. Sie folgten dem Wegweiser bis zum Ende des Geländes, wo sie auf eine alte Gleisanlage trafen, die augenscheinlich nicht mehr genutzt wurde. Ausrangierte Waggons verrosteten hier, sie stiegen über die rutschigen Gleise hinweg, bis Berger einen Güterwagen entdeckte, an dem ein weiterer Zettel befestigt war. 20:05. Kein Richtungspfeil.
Der Reiseveranstalter deutete auf eine spaltbreit geöffnete Schiebetür. Vorsichtig gingen sie darauf zu, lauschten auf Geräusche und als außer dem fernen Verkehr nichts weiter zu hören war, zogen Sie gemeinsam an dem Türbügel. Ein metallisches Quietschen begleitete ihre Bemühungen.
»Wir hätten Taschenlampen mitnehmen sollen«, sagte Pfeiffer und suchte die Funktion seines Diensttelefons. Er fand sie, doch der Lichtkegel seiner Handykamera fiel in einen leeren Raum. Über dem Eingang war ein alter, wahrscheinlich defekter Baustrahler montiert, sonst nichts. Eine überraschte Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er sah auf das Display, noch fünf Minuten bis 20:05. Berger stand ratlos neben ihm, Pfeiffer leuchtete erneut die Wände ab, da bemerkte er ganz am Ende des Waggons zwei kleine Gegenstände. Nach kurzem Zögern nickten sie einander zu und kletterten ins Innere des Wagens, Pfeiffer dynamischer als der rundliche Berger. Die beiden Objekte entpuppten sich aus der Nähe als ein dicker, brauner A4-Umschlag und ein kleines Päckchen.
Christian Pfeiffer stand auf dem Umschlag. Richard Berger auf dem Paket.
»Eine Bombe?« Die Stimme des Reiseveranstalters klang zittrig.
Unwahrscheinlich, dachte Pfeiffer und wenn, dann würde sie wohl erst in vier Minuten hochgehen. Er griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Heraus kam ein Konvolut von Bildern und Schriftstücken, ausgedruckt auf billigem A4-Papier. Das erste Foto zeigte einen Mann mit gestutztem, grauen Bart, der ein kariertes Hemd trug und gerade ein Gebäude durch einen unscheinbaren Eingang verließ. Unter dem Bild stand ein kleiner Text.
Klaus Töpfer beim Verlassen des Venustempels.
»Das ist der Mann, der sich vor meinem Haus erschossen hat!«, rief Berger überrascht. Pfeiffer nickte, er erkannte den Mann aus dem Video ebenfalls, wenngleich er auf dem Foto wesentlich gepflegter erschien. Vor allem aber kannte er den Venustempel aus Recherchen. Ein Bordell, nach außen hin legal, doch hinter den Kulissen ein Hort illegaler Prostitution.
Auf der nächsten Seite waren zwei E-Mails abgedruckt. Derselbe Klaus Töpfer, der den Tempel verließ, forderte einen seiner Vertrauten auf, ein Reiseunternehmen zu finden, das Fahrten von Sofia nach Frankfurt organisieren konnte. Der Vertraute hatte geantwortet, dass Berger-Reisen die Busse bereitstellen würde. Zehntausend Euro pro Fahrt und es würden vom Inhaber keine Fragen gestellt.
Pfeiffer sah auf und selbst im Halbdunkel des Handytaschenlampenlichts konnte er sehen, dass Bergers Gesicht bleich geworden war.
»Das war…«, stammelte Berger. »Ich wusste doch nicht…«
Doch bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, flammte plötzlich Licht auf, als leuchtete jemand mit einem Scheinwerfer in den Waggon. Die beiden Männer wirbelten herum, wurden geblendet, Pfeiffer schirmte die Augen mit den Papieren ab. Der Baustrahler über dem Eingang leuchtete gleißend hell. Daneben erkannte er nun auch eine Webcam.
»Haben Sie das Foto von Marlene Romero schon entdeckt?«, rief jemand außerhalb. Pfeiffer brauchte keine Sekunde, um die Stimme zu erkennen, es war der Anrufer, der Unbekannte auf dem ersten Video. Pfeiffer spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, wie Adrenalin sämtliche Furcht verdrängte und einen Jagdinstinkt weckte, der stärker war als je zuvor in seinem Leben. Vergessen waren die Emails, die Richard Berger belasteten, mit einem Menschenhändler zusammengearbeitet zu haben. Mit einem Mal gab es nur noch den Drang, diesem Mann, von dem er nichts als die Stimme kannte, Schmerz zuzufügen, ihn büßen zu lassen für das, was er Maria angetan hatte. Doch bevor Pfeiffer zum Eingang rennen konnte, kletterte der Unbekannte selbst leichtfüßig in den Wagen. Er war auffällig groß und schlank, trug eine Jeans und eine Jacke aus braunem Lederimitat. Sein Gesicht lag im Schatten, er hielt sich außerhalb des Lichtkegels, der wie ein Scheinwerfer auf Pfeiffer und Berger gerichtet war.
»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er und ein bösartiger Unterton lag in seiner Stimme. »Ah, ah, ah, bleiben Sie stehen, Christian Pfeiffer, ich bitte Sie, ich bin bewaffnet. Sie enttäuschen mich, wenn Sie glauben, dass ich mich Ihnen zum Fraß vorwerfen würde.« Er zog eine Pistole betont langsam aus der Jackentasche und richtete sie auf seine beiden Opfer.
»Wo ist Marlene, du Widerling?«
»Eine hervorragende Frage, Herr Berger, die wichtigste des heutigen Abends. In einem fensterlosen, luftdicht verschlossenen Kellerloch und die Antwort befindet sich nur an einem Ort. Hier.« Er tippte mit dem Lauf der Pistole gegen seine Stirn. »Also reißen Sie sich zusammen und tun Sie, was ich sage. Öffnen Sie bitte das Paket, Herr Berger.«
»Sollen wir alle gemeinsam in die Luft gesprengt werden?«, warf Pfeiffer ein, damit der Mann weiterredete, irgendetwas preisgab.
»Ich bitte Sie! Menschen in die Luft zu jagen ist nicht mein Stil.«
»Sie zu entführen und in den Selbstmord zu zwingen dagegen schon.«
»Nein, das ist nicht wahr, ich zwinge niemanden. Jeder Mensch hat eine Wahl. Klaus Töpfer hatte eine und er hat sich entschieden, den Pfad der Tugend gegen Habgier und Wollust einzutauschen. Marlene Romero konnte wählen und hat die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen. Beide wurden von ihren Entscheidungen eingeholt.«
»Und was ist mit Maria, du dreckiges Arschloch? Was hat sie getan, dass du… dass sie…« Pfeiffer konnte es nicht aussprechen. Wut, Hass und Ohnmacht brannten ihm in den Augen.
»Sie hatte die Wahl, ihren Mitmenschen oder sich selbst zu helfen. Die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung war ihr Untergang. Ihre Gleichgültigkeit, Christian Pfeiffer, denn auch Sie hatten eine Wahl und haben sich entschieden, wegzusehen. Schauen sie sich die fünfte Seite an.«
Mit zitternden Händen blätterte Pfeiffer weiter. Was er sah, brauchte er nicht einmal zu überfliegen. Eine Nachricht von Konstantin Magnus, seinem Chef, ein halbes Jahr alt. Die strikte Anweisung, nicht mehr zu recherchieren, kein Wort in der FGZ über Menschenhandel, Prostitution. Stattdessen Versetzung zur Online-Redaktion.
»Sie hätten weitermachen und Ihren Job riskieren können«, sagte der Unbekannte. »Sie haben sich anders entschieden. Und damit kommen wir zu Herrn Berger! Denn der hatte ebenfalls eine Wahl und hat sie sogar jetzt noch! Er muss das Paket nicht öffnen, aber dann erstickt seine geliebte Schwester, die ach so selbstlose Pastorin, in einem kalten Kellerloch und niemand weiß, wo man ihre Leiche finden kann.«
»Schon gut!«, rief Berger. Langsam, wie in Zeitlupe kniete er nieder und öffnete mit zittrigen Händen das Paket. Dann erschrak er und zuckte zurück.
»Nehmen Sie sie, na los doch«, sagte der Unbekannte. »Zeigen Sie uns Ihren Fund.«
Zitternd stand Richard Berger auf und drehte sich um. In der Hand, wie in Trance darauf starrend, hielt er eine Pistole.
»Dieselbe mit der sich Klaus Töpfer vor ihrem Haus erschossen hat.« Die Stimme des Unbekannten klang betont ruhig, doch es lag Aufregung, ja sogar Freude darin, als spielte er ein Spiel, von dem er sicher war, es zu gewinnen. Aufreizend lässig steckte er seine eigene Waffe wieder in die Jackentasche. »Eine Kugel befindet sich im Magazin, Herr Berger, nur eine. Ihre Entscheidung, was sie damit tun. Sie könnten mich erschießen, aber wir wissen beide, dass sie das nicht sollten.« Er wartete ab, Richard Berger war wie erstarrt.
»Oder Sie töten sich selbst. Ich schlage Ihnen etwas vor! Sie werden in die Kamera sehen und laut und deutlich sagen:
›Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‹
Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten. Wenn Sie das getan haben, wird Christian Pfeiffer das Video auf der Seite der FGZ hochladen. Ich verrate im Gegenzug der Polizei, wo Marlene Romero gefangen gehalten wird. Sie sehen, ich zwinge niemanden. Ihre Entscheidung, Herr Berger.«
Er hob den Arm in Richtung der Webcam und drückte auf eine kleine Fernbedienung. Mit einem roten Licht zeigte die Kamera an, dass sie aufzeichnete.

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Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen

#56 von petias , 15.12.2024 13:07

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 5. Teil

Jack in a box, in a box
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„Halt, nicht so schnell!“ Christian Pfeiffer unterbrach Berger in seinen Gedanken. Er sah förmlich, wie der Entschluss, dem Verrückten zu Willen zu sein, in der vagen Hoffnung seine Schwester zu retten, sich in dem völlig verzweifelten Mann bildete.

„Es ehrt sie, Richard, dass sie ihre Schwester retten wollen, sogar unter Aufgabe ihres eigenen Lebens. Aber denken sie dabei auch an ihre Frau? Und überhaupt, ich bin mir sicher, ihre Schwester ist längst tot!“

„Halt die Klappe! Was mischt du dich ein du Winkeljournalist? Das ist mein Spiel, du spielst nur eine Rolle. Und gerade denke ich darüber nach, sie umzubesetzen!“
Der selbsternannte Manipulator anderer Leben zeigte zum ersten mal Nerven.

„Pfeiffer hat recht“, meldete sich jetzt Berger zu Wort. „Sie brüsten sich damit, dass sie jedem eine Wahl lassen. Wahrscheinlich haben sie Marlene längst vor eine ähnliche Wahl gestellt. Bei der Menschenliebe und dem Gottvertrauen meiner Schwester kann ich mir vorstellen, wie die ausgegangen ist.“

„Von wegen Menschenliebe und Gottvertrauen, die hat ihr Gelübde gebrochen“, ereiferte sich der Psychopath.

„Das sagten sie vorhin schon, dass meine Schwester die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen hätte. Was soll das denn bedeuten? Wollen sie damit sagen, sie hätte ihre Gelübde als Pfarrerin gebrochen? Eine bessere Pfarrerin als Marlene kann ich mir gar nicht vorstellen.“

„Nicht das Gelübde als Pfarrerin hat sie gebrochen, sondern das, das sie mir gegeben hat!“ Die Stimme des Entführers schnappte über. Seine Rage war unübersehbar.

„Aha!“ Pfeiffer machte seinem Namen Ehre und pfiff durch die Zähne. „Langsam kommen wir der Sache näher. Erhellen sie uns. Wenn wir schon alle sterben sollen, dann sollten wir wenigstens wissen, wofür.“

Pfeiffer und der Wahnsinnige, der mittlerweile wieder die Hand mit der Pistole aus der Tasche gezogen hatte, lieferten sich ein heftiges Wortgefecht. Es ging um die Frage, ob denn Pfeiffers Leben ebenfalls bedroht wäre, oder nicht. Aber Berger hörte gar nicht zu. Seine Gedanken kreisten in seinem Kopf.
Marlene hatte dem Spacko ein Gelübde gegeben, oder sie sich gegenseitig. Folglich mussten sie sich gekannt haben. Dann hätte Marlene die Bequemlichkeit dem Gelübde vorgezogen. Er erinnerte sich, aber das war bestimmt 10 Jahre her, da war Marlene für ein paar Monate weg gewesen. Sie hatte jemanden kennen gelernt, mit dem sie nach Spanien gereist war. Vorher wollte sie Medizin studieren und nach dem Studium für „Ärzte ohne Grenzen“ oder eine ähnliche Organisation an Hilfsprojekten teilnehmen. Als sie zurückgekommen war, studierte sie evangelische
Theologie und wurde Pfarrerin. Was war da in Spanien vorgefallen? Marlene hatte nie darüber gesprochen.
Der Kidnapper wusste von der Sache mit den Busreisen von Sofia nach Frankfurt. Das war auch zu dieser Zeit vor ca. 10 Jahren. Berger dachte damals, es ginge um das Einschleusen illegaler Einwanderer. 10000 Euro für eine Busfahrt mit 30 Passagieren von Sofia nach Frankfurt waren jetzt nicht exorbitant hoch. Ein Ticket Frankfurt Sofia kostet heute ca. 150 Euro. Bei 30 Leuten sind das 4500 Euro dazu noch die Leerfahrt nach Sofia, da sind wir schon bei 9000 Euro. Damals waren die Preise nicht viel günstiger als heute. Ein todeswürdiges Verbrechen war das sicher nicht.
Berger war der Erpresser irgendwie bekannt vorgekommen. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er war der Busfahrer, der damals diese Sofia-Fahrten gemacht hatte. Ein Student mit Busschein, der sich sein Studium finanzieren wollte. Berger hatte ihn nur wenige Male gesehen.
Was, wenn Marlene den damals kennengelernt hatte und er es war, mit dem sie nach Spanien gereist war? Berger hatte ein gutes Namensgedächtnis. Der Mann hieß - Robert Wolf.

„Welches Gelübde haben sie und meine Schwester sich damals in Spanien gegeben, Herr Wolf?“, meldete sich Berger wieder im Gespräch zurück.
Beide, Wolf und Pfeiffer waren sekundenlang stumm vor Erstaunen.

Wolf raffte sich als Erster wieder auf: „Haben sie mich letztlich doch noch erkannt, Chef?“ Das Wort „Chef“ betonte er spöttisch.
„Euch beide vor eine Wahl stellen, kann ich mir nun nicht mehr leisten, da kann ich euch vor dem Tod auch noch sagen, worum es geht. Schieben sie ihre Waffe zu mir herüber, Berger!“
Wolf hatte seine Pistole auf Berger gerichtet. Der tat wie ihm geheißen. Berger war nicht so der Heldentyp.

„Marlene und ich hatten uns verliebt und wir spannen große Pläne für die Zukunft. Wir wollten für mehr Gerechtigkeit in der Welt sorgen. Wir gelobten, uns beide immer zu unterstützen dieses Ziel umzusetzen.

„Das Gelübde ewiger Liebe“, warf Pfeiffer pathetisch ein.
„Nein“, widersprach Wolf, „wir waren beide zu intelligent, um nicht zu wissen, dass man sowas wie ewige Liebe nicht realistischerweise geloben kann. Aber ewige gegenseitige Fürsorge und Unterstützung schon!“

„Als ich einen korrupten Journalisten vor die Wahl stellte, und der sich für einen ehrenvollen Tod entschieden hatte, war Marlene nicht einverstanden. Sie trennte sich von mir und ging zurück nach Deutschland. Sie hinterließ mir einen Brief, indem sie sich von mir trennte und von Schuld sprach, die sie durch meine Unterstützung auf sich geladen hätte. Ich wurde verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Vor einem halben Jahr hat man mich wegen guter Führung vorzeitig entlassen.
Als ich Marlene wieder aufgespürt hatte, war sie Pfarrerin in Frankfurt in der Gemeinde, zu der auch der Bruder mit seiner Frau gehörte.“

„Womit sie auch zugegeben hätten, dass die ganze Richter und Henker Masche reiner Eigennutz und Rachelust sind“, antwortete Pfeiffer mit Verachtung.

„Aber diese ihre sogenannte Erkenntnis nehmen sie jetzt mit ins Grab, sie talentloser Schreiberling!“
Wolf trat nach vorne in den Scheinwerferkegel und richtete seine Waffe auf Pfeiffer.

Ein Schuss fiel, bevor Wolf noch abdrücken konnte. Die Kugel trat an seinem Hinterkopf in den Schädel ein, verließ ihn mitten durch die Stirn und blieb im Dach des Waggons stecken.

Der Scharfschütze des Sondereinsatzkommandos verstand seinen Job.
Frau Berger hatte gegen den Willen ihres Bruders die Polizei verständigt und damit vermutlich nicht nur das Leben von ihrem Mann und Christian Pfeiffer gerettet.

Marlene fand man zwei Tage später tot im Keller eines verlassenen Hauses. Der Keller war nicht luftdicht verschlossen. Sie hatte sich mit der Waffe vor Tagen selbst erschossen, mit der sich auch ihr Bruder hätte das Leben nehmen sollen.

***

Christian Pfeiffer wachte auf. Er spürte sanfte Küsse auf seinem Mund. Als er es endlich schaffte, die Augen aufzuschlagen, sah er Maria, die sich zärtlich über ihn beugte. Nach langen Sekunden trat endlich Erkennen in sein Gesicht.
„Du glaubst nicht“, flüsterte er kopfschüttelnd seiner Frau zu, „was ich für einen Blödsinn geträumt habe!“

*****

Gabi und Robert drängten sich mit duzenden Anderen durch die geöffneten Flügeltüren des Kinos.
„Der Schluss kam recht überraschend, finde ich, hätte ich anders gemacht als Filmemacher. Was meinst du, Liebes?“
„Ich frage mich, ob du dich auch erschießen würdest, um mich zu retten?“ Gabi sah Robert mit einem schalkhaften Lächeln an und schlug pathetisch die Augenlider nach oben.
„Klar, du bist doch mein Leben. Ohne DICH wäre ich sowieso tot!“

Gabi klemmte Roberts Nase zwischen die gebeugten Mittelfinger und Zeigefinger: „Ich werde dich beizeiten daran erinnern!“ Sie zog seinen Kopf zu sich heran und küsste ihn auf den Mund.


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zuletzt bearbeitet 16.12.2024 | Top

RE: Geschichten und Texte, die mal Geschichten werden wollen

#57 von petias , 23.12.2024 23:31

Papyrus Autor Seitenwind 2024 Offene Enden 5. Teil Siegergeschichte

Endlich
von @Heather

»Action, Herr Berger! Die Augen der Öffentlichkeit sind erwartungsvoll auf sie gerichtet.«

Berger begann zu wimmern. »Machen sie das aus, ich flehe sie an! Ich … kann das nicht. So will ich nicht sterben, aber sie dürfen Marlene nichts tun. Bitte!« Tränen und Rotz liefen ihm über die Lippen und er schluchzte zum Gotterbarmen. Die rote Leuchtdiode über der Kamera erlosch. Der Wahnsinnige hatte die Aufzeichnung unterbrochen.

»Okay, your choice! Dann telefoniere ich jetzt mal kurz, damit sich jemand um ihre liebe Schwester kümmert. An ihren Händen, Berger, klebt nicht nur Blut, sie sind dann über und über damit besudelt! Manche würden ihr Verhalten mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Menschen entschuldigen – ich nenne es Feigheit.«

»Halt … halt!«, heulte Berger auf, als hätte man ihn getreten, »ich tu´s ja.« Ein dunkler Fleck breitete sich in seinem Schritt aus. Als wäre Angst nicht alleine schon grausam – sie raubte ihren Opfern jede Würde.

»Gute Entscheidung. Wenn nicht, wäre ich gerne behilflich. Wie bei Maria; die Ärmste schaffte es auch nicht aus eigener Kraft.« Pfeiffer biss sich vor unterdrückter Wut auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes tun!

Das Lämpchen über der Kameralinse glomm erneut auf. Der Journalist hatte die ganze Zeit in Panik erstarrt abgewartet, aber seine Gedanken liefen auf der Suche nach einem Ausweg Amok. Hier ging es nicht um moralische Werte – das war ein beschissener, persönlicher Rachefeldzug und sie könnten niemals gewinnen, wenn sie nach den Regeln dieses Irren spielten. Es musste hier und jetzt enden, aber nicht so!

Inzwischen hatte sich Berger etwas gefasst. Er sah in die Kamera und sagte: »Ich … bin …«, dann warf er Pfeiffer einen flehenden Blick zu, » ähm … bitte, sagen sie meiner Frau, es tut mir leid!« In einer unerwartet schnellen und fließenden Bewegung hob er die Pistole, setzte die Mündung unter sein Kinn und drückte ab.

»Himmel, nein!« Pfeiffer schloss in Erwartung eines Knalls reflexartig die Augen. Doch er hörte nur ein ›Klick‹. Pause. Jemand klatschte Applaus.

»Bravo, großes Kino!« Aus dem Schatten trat der Mann in das Licht des Scheinwerfers und grinste Berger selbstgefällig an. Den Journalisten ignorierte er.

»Aber sie sollten doch nicht gehen, ohne zu wissen, wer ich bin. Gesehen haben wir uns ja schon mal, sie erinnern sich. Ich bin Georgi Petrov. Für meine wundervolle Tochter wurde vor einem Dreivierteljahr eine ihrer Spezial-Reisen gebucht, Herr Berger. Sofia-Frankfurt, einfache Fahrt. Sie hatte in ihrem kurzen Leben kein Glück und hatte geglaubt, deshalb auch keine andere Wahl zu haben. In der Pathologie des Uniklinikums habe ich sie dann wiedergesehen, um sie zu identifizieren. Man hatte sie halbtotgeschlagen, weil sie nicht bereit war, ihre Reisekosten auf die geforderte Art und Weise im ›Venustempel‹ abzuarbeiten. Wie einen Sack Abfall hatten Klaus Töpfers Schläger sie in einer Seitengasse zum Sterben entsorgt. In der Klinik konnte man nichts mehr für sie tun. Sie starb um 20:05 Uhr. In der Zeit danach habe ich Marlene, die noch den Nachnamen ihres verstorbenen Mannes Romero trägt, kennengelernt. Sie arbeitet ehrenamtlich als Notfallseelsorgerin in der Krisenintervention, wissen sie das? Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Unsere Beziehung hielten wir jedoch geheim, und es war reiner Zufall, als wir erfuhren, dass ausgerechnet ihr Bruder Richard als Reiseveranstalter in diesen Menschenhandel verwickelt war. Ein unfassbarer Schock für uns! Ich war wie besessen, musste irgendetwas tun und fand Trost darin, meine Trauer und die Wut in einen Plan zu verwandeln. Marlene hat mitgespielt, obwohl sie ihn verabscheut. Also, verderben sie ihn mir nicht auch …«

Erheblich verspätet … kam der Knall jetzt doch!

Das Geräusch war von solch hässlicher Endgültigkeit, dass Pfeiffer glaubte, die Realität sei detoniert und er selbst dabei in Stücke gerissen worden. Im selben Augenblick hatte ganz Frankfurt scheinbar zu Atmen aufgehört. Georgi Petrov schaute die beiden Männer entrückt an, gleich einem Kind, dass sich wundert, wie aus einem klaren, blauem Himmel plötzlich ein Wolkenbruch niedergeht. Er blickte auf seine Brust, zog, wie in Zeitlupe, den Reißverschluss seiner Kunstlederjacke herunter und bestaunte die samtrote Pfingstrose, die auf seinem weißen Hemd erblühte. Der große Mann hielt sie sanft umschlossen und fiel wie zum Gebet erst auf seine Knie, um dann vornüber auf den Waggonboden zu kippen.

Es war vorbei! Die Zeit stand still. Es dauerte, bis der Grundton der City zurückkehrte und sich die vertrauten Obertöne einer lebendigen Metropole wieder hinzugesellten. Es roch nach nassem Rost und die Luft schmeckte sogar metallisch. Die Wirklichkeit hatte sich neu zusammengesetzt.

Vor dem Güterwaggon stand Dorothea, in beiden Händen den Smith&Wesson Revolver ›für Notfälle‹ aus dem Tresor der Bergers und starrte auf den Mann, den sie soeben kaltblütig von hinten erschossen hatte.

Pfeiffer sprang ungelenk vom Wagen und half dem untersetzten Reiseunternehmer hinunter. Der ältere Herr wirkte psychisch schwer angeschlagen, und Pfeiffer sorgte sich ernsthaft um ihn. Dennoch schwor sich der Journalist, die ganze Story ohne Rücksicht öffentlich zu machen. Zu viele Menschen waren einen sinnlosen Tod gestorben! Selbst wenn das bedeutete, Magnus den Job vor die Füße zu knallen!

Hinter Dorothea Berger, am Rand des Gleisbetts, hielt ein dunkler Mittelklasse-SUV mit laufendem Motor. Die mitteldeutsche Dezembermischung aus Regentröpfchen und Reif ließ den Lack funkeln.

»Unser Zweitwagen«, stellte Berger überrascht fest. »Doro, was machst du überhaupt hier?«

Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt und aus dem Sprühregen wurde Griesel. Feine Eiskörnchen raschelten und knisterten auf dem Autodach. Pfeiffer wollte seinen Fedora tiefer in die Stirn ziehen, doch sein Griff ging ins Leere. Sein Hut lag neben dem Toten im Waggon, mitten im wachsenden Pfingstrosenbeet. Er war ein Geschenk Marias gewesen. »Damit du immer gut behütet bist«, hatte sie gesagt.

Dorotheas Unterlippe zitterte vor Erregung und Kälte. Sie weinte lautlos, mit Stil.

»Ich wurde angerufen, kaum dass ihr aus dem Haus wart.« Sie wehrte den Versuch einer Umarmung ihres Mannes harsch ab. Ihre Mimik bestärkte die Geste des Widerwillens. »Nein, Richard, fass mich nicht an! Sieh, wozu du mich gebracht hast! Das und all das andere Schreckliche werde ich dir niemals verzeihen. Du ekelst mich an. Such nicht nach mir, denn ich will dich nie wiedersehen!« Martinshörner näherten sich aus der Ferne. Sie zeigte vage in die Richtung. »Die habe ich angerufen. Versuche, bei ihnen Absolution zu finden.«

Achtlos ließ Dorothea Berger den Revolver fallen und kehrte dem Schauplatz den Rücken. Einer Trauerweide gleich, mit ihren hängenden Schultern, aber mit trotzig erhobenem Kinn, ging sie um das wartende Fahrzeug herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Person am Steuer wandte ihr Gesicht den Männern zu. Ihre Augen waren die eines Menschen, der einmal zu oft die Endlichkeit gesehen hatte.

Marlene lächelte traurig und gab Gas.


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zuletzt bearbeitet 23.12.2024 | Top

   

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