Kapitel 15 Michael (und) der Sensenmann
Noch ist unsere Spur nicht völlig verwischt, der Brunnen des natürlichen Lebens nicht allzu fern. Noch hat jeder im tiefsten seines Herzens wenigstens einen Rest Oasensehnsucht, den rettenden Trieb zu den Quellen des Lebens und des Glücks. Aber warten wir mit der Umkehr nicht darauf, bis alle miteinander den Rückweg einschlagen wollen. Es könnte zu spät werden. Denn was sollen wir tun, wenn die Verhältnisse zu schwierig, oder wir zu alt werden?
(Aus Gerhard Schönauer: „Zurück zum Leben auf dem Lande“. Die letzten Zeilen des Buches)
Michael litt in gewisser Weise unter der Last des Alters. Nicht weil er krank war, sich schwach fühlte oder einsam, nein es war die Altersdiskriminierung, die er zunehmend spürte. Was noch vor einigen Jahren ein Lapsus war, eine Unachtsamkeit, eine Vergesslichkeit, wie sie jedem passiert, wurde jetzt von manchen als ein Zeichen des Alters gewertet. Als ein Zeichen, das Haltbarkeitsdatum überschritten zu haben mit unausweichlichem Ausgang.
Aber das Alter hatte auch seine guten Seiten. Man bezog jetzt ein bedingungsloses Grundeinkommen, genannt Rente, was viel Zeit und Energie spart. Niemand, nicht mal Putin denkt darüber nach, über 70-Jährige als Soldaten einzuziehen.
Wenn es einem jetzt noch gelang, die Vorurteile des Umfeldes nicht als Maßstab der eigenen Befindlichkeit zu zulassen, dann ließ sich gut leben und optimistisch in die Zukunft blicken.
Wenn man sich sagen lassen würde, dass man mit über 70 nicht mehr auf Dächern herumklettern dürfe, würde man die Fähigkeit verlieren auf Dächern herumzusteigen. In einem Buch über das Laufen hatte Michael gelesen: „Man hört nicht mit dem Laufen auf, weil man alt wird, sondern man wird alt, weil man mit dem Laufen aufhört!“
Das war eine vernünftige Betrachtungsweise, fand Michael, er hielt einen nicht unerheblichen Teil des Altwerdens und sich so Fühlens für das Ergebnis einer „sich selbst erfüllenden Prohezeihung“: Man wird alt und gebrechlich, weil man die Zuschreibung über die Leiden des Alterns für sich annimmt.
Aber etwas kürzer treten, etwas langsamer arbeiten, und nicht so schwer, war eine gute Idee. Und wenn das jetzt mit dem Hinweis auf das Alter problemlos akzeptiert würde: Perfekt!
Michael hatte das Gefühl, dass man mit dem modernen Leben die „Bodenhaftung“ verlieren würde schon in seiner Studentenzeit, als eine Folge von Ölkrise, Sonntagsfahrverbot und die publizierten Erkenntnisse des Club of Rome. In der Studienzeit gelang schon mal ansatzweise ein Selbstversorgerleben auf dem Lande. Aber was danach kam, war ein bürgerliches Leben mit technischem Beruf für eine moderne Welt in rasendem Umbruch mit unbekanntem Ziel. Erst als die Ehe geschieden und die Kinder aus dem Haus waren, nahm er seine alten losen Enden wieder in die Hand. In der ehemaligen DDR gab es in ärmlichen Landfluchtgegenden günstig alte Häuser und noch günstiger Land, das für die ehemaligen LPGen, von der Treuhand abgewickelt, zu steil oder zu verwinkelt war, um mit einer Flotte an Großmaschinen bearbeitet werden zu können. Die hügeligen, bewaldeten, dünn besiedelten Mittelgebirgslandschaften Süd-Thüringens waren dafür geradezu ideal!
Die in DDR-Zeiten enteigneten Kleingrundbesitzer hatten ihr ehemaliges Eigentum zurückbekommen, aber die Bodenhaftung, den Bezug zu ihrem Stück Land längst verloren. Manchmal nahmen sie das Angebot an, so ein Grundstück zu verkaufen. War es nicht verpachtet und klein genug, konnte die LPG-Nachfolgerverwaltung in Michaels Fall die "Schmiedefelder Alm" rechtlich nichts dagegen tun.
Michael hatte einige Gemeinschaften und Ökodörfer besucht, an einigen Gründungsprozessen von solchen teilgenommen, viel Zeit in Arbeitskreise und endlose Debatten gesteckt, die aber letztlich an der Gruppendynamik, der mangelnden Bereitschaft der Interessenten, dem Geld und an den Behörden eines „widersetzlichen Staates“ gescheitert waren. Jetzt wollte er den Spieß umdrehen. Er kaufte sich mit den Früchten seines Berufslebens und den Mitteln, die seine Scheidung übrig gelassen hatte ein altes Haus mit einem guten Hektar Land drum herum und fing einfach an. Interessenten wurden eingeladen mitzumachen. Solche kamen und gingen. Der Aufbau von Selbstversorgerstrukturen wurden dadurch beschleunigt und unterstützt, waren aber letztlich nicht von der Gruppendynamik der Bewohner abhängig.
Das Netzwerk an ähnlich oder zumindest freundlich gesinnten Nachbarn und Dorfbewohnern wuchs und Michael förderte begeistert die Idee von Harald, Gertrud, Heinz und Anderen, ein Ökodorf zu gründen. Er würde da zwar nicht hinziehen, oder höchstens, wenn er seinen Hof an andere übergeben würde, was er sich aber derzeit noch gar nicht vorstellen konnte, aber an engen Beziehungen zum Dorf war er sehr interessiert. Die Idee von Tauschkreis, lokaler Währung, Betrieb eines Kurssystems, Entwicklung und Pflege von Selbstversorgertechniken waren auch seinen Ideen sehr verwandt.
Als Gernod auf dem Sauhügelhof eintraf, hatte Michael das Mähen wegen des schwindenden Taues eingestellt, ruhte sich auf einer Bank neben dem Geräteschuppen aus und genoss die Aussicht ins Tal und die umgebenden Hügel. Er hieß Gernod willkommen und bot ihm ein Glas des Waldmeister Kaltauszuges an, der in einer großen Glaskaraffe auf dem Tisch stand. Nach einigen freundlichen Belanglosigkeiten rückte Gernod mit seinem Interesse am Sensen heraus.
„Du hast ein größeres Stück Fläche gemäht heute morgen, fressen deine Schafe so viel pro Tag?“
Michael winkte ab: „Nein, die Schafe weiden ihr Gras schon selbst ab. Das gemähte Gras ist für Heu.“
Gernod erinnerte sich daran, dass Harald gesagt hatte: „Ist es nicht noch zu früh zum Heumachen?“
Michael erzählte ihm, dass der Grund für spätes Heumachen einerseits in der Masse und dem Gehalt an nahrhaften Samen liege, andererseits sollten die Gräser erst blühen und den Insekten als Weide dienen. Ausgestreute Samen erhalten die Artenvielfalt. Das hat im Zusammenhang mit der maschinellen Landwirtschaft seine Berechtigung. Die Wirtschaftlichkeit eines Hofes hängt davon ab, wie viel Futter zugekauft werden muss. Da wird in Nahrungsgehalte gerechnet. Die wichtigen Bestandteile aus früheren Stadien der Pflanzenentwicklung werden durch Zusatzfutter ausgeglichen. Die großen Maschinen mähen eine gewaltige Wiese in wenigen Stunden und die Heuwender und Rechen halten da locker mit. Das Einbringen mit automatischen Großballenpressen ist auch reine Maschinenarbeit und geht schnell. So reichen zwei sonnige Tage oft für die komplette Heuernte.
Aber bei ihm, erzählte er weiter, sähe das etwas anders aus. Ich muss die Ernte über mehrere Tage verteilen. Ich mache immer nur so viel auf einmal, wie ich gut schaffen kann. Mit der Sense mähen, mit dem Rechen Wenden, mit Säcken und Rückentragen das Heu in den Schober bringen, das braucht seine Zeit. So werden immer nur, in verschiedenen Reifestadien des Grases, kleinere Streifen der Wiese gemäht. So können alle Arten auf Teilen des Hofes in Samen gehen, und dies mit dem Wind verteilen, auch auf die schon gemähten Abschnitte. Es können sich in den zu verschiedenen Zeiten gemähten Streifen andere Gräser und Kräuter entwickeln, die in den ungemähten Abschnitten von den dominierenden Großgräsern erstickt würden. Das Mähen in verschiedenen Phasen, beginnend schon nach den ersten Blühern, aber auch das ganzjährige Stehen lassen von Blühstreifen fördert die Artenvielfalt in einer Wiese ganz erheblich, und auch des Volkes, das in ihr lebt, all das Getier und Gewürm.
Gernod wunderte sich: „Das künstliche Abmähen einer Wiese soll für mehr Artenvielfalt sorgen, als sie der Natur überlassen?“
Michael lachte: „Wenn man eine Wiese sich selbst überlässt, dann wir sie zum Wald. Hier in der Gegend ist die natürliche Vegetation der Wald. Die kräuterreichen Wiesen sind eine menschengemachte Kulturlandschaft. Wenn es genügend Wild gäbe, das wir abschießen – Hallali, es lebe die Jagd – und Rinderherden, dann würden sich schon einige Lichtungen halten, in denen die wachsenden Bäumchen verbissen werden, aber das hat weitgehend der Mensch übernommen und viel ausgedehnter, als die Natur das machen würde.
In den hügeligen maschinenunfreundlichen Gegenden wie hier oder auch in den Almen der Hochgebirge, werden Prämien bezahlt, um die vielbesungene Kulturlandschaft zu erhalten. Der Mensch hat so sehr eingegriffen in die nichtmenschliche Natur, dass er schon komplett verschwinden müsste, dass sich nach Jahrzehnten und Jahrhunderten ein neues Gleichgewicht bilden würde. Die Verbreitung verschiedener Arten würde sich neu einpendeln.“
Michael erklärte, dass es bei 8 Milliarden Menschen nicht darum gehen könne, keine Nahrung zu erzeugen und als Sammler und Wildbeuter zu leben, sondern dass man die Nahrung mit Maß und Ziel, Sinn und Verstand anbauen müsste. Und das wollen er und seine Mitstreiter versuchen.
Während er redete, hatte er mit einem Vierkantschlüssel den Bügel geöffnet, mit dem das Sensenblatt am Sensenbaum befestigt war. Der Dengelhammer lag auf dem Stück Baum, in dem der Dengelstock, eine Art Mini-Amboss – eingeschlagen war. Michael schickte sich an, die Sense zu dengeln.