Ökodorf "Eine Erde"

#16 von petias , 10.06.2024 08:46

Kapitel 15 Michael (und) der Sensenmann

Noch ist unsere Spur nicht völlig verwischt, der Brunnen des natürlichen Lebens nicht allzu fern. Noch hat jeder im tiefsten seines Herzens wenigstens einen Rest Oasensehnsucht, den rettenden Trieb zu den Quellen des Lebens und des Glücks. Aber warten wir mit der Umkehr nicht darauf, bis alle miteinander den Rückweg einschlagen wollen. Es könnte zu spät werden. Denn was sollen wir tun, wenn die Verhältnisse zu schwierig, oder wir zu alt werden?
(Aus Gerhard Schönauer: „Zurück zum Leben auf dem Lande“. Die letzten Zeilen des Buches)


Michael litt in gewisser Weise unter der Last des Alters. Nicht weil er krank war, sich schwach fühlte oder einsam, nein es war die Altersdiskriminierung, die er zunehmend spürte. Was noch vor einigen Jahren ein Lapsus war, eine Unachtsamkeit, eine Vergesslichkeit, wie sie jedem passiert, wurde jetzt von manchen als ein Zeichen des Alters gewertet. Als ein Zeichen, das Haltbarkeitsdatum überschritten zu haben mit unausweichlichem Ausgang.
Aber das Alter hatte auch seine guten Seiten. Man bezog jetzt ein bedingungsloses Grundeinkommen, genannt Rente, was viel Zeit und Energie spart. Niemand, nicht mal Putin denkt darüber nach, über 70-Jährige als Soldaten einzuziehen.
Wenn es einem jetzt noch gelang, die Vorurteile des Umfeldes nicht als Maßstab der eigenen Befindlichkeit zu zulassen, dann ließ sich gut leben und optimistisch in die Zukunft blicken.
Wenn man sich sagen lassen würde, dass man mit über 70 nicht mehr auf Dächern herumklettern dürfe, würde man die Fähigkeit verlieren auf Dächern herumzusteigen. In einem Buch über das Laufen hatte Michael gelesen: „Man hört nicht mit dem Laufen auf, weil man alt wird, sondern man wird alt, weil man mit dem Laufen aufhört!“
Das war eine vernünftige Betrachtungsweise, fand Michael, er hielt einen nicht unerheblichen Teil des Altwerdens und sich so Fühlens für das Ergebnis einer „sich selbst erfüllenden Prohezeihung“: Man wird alt und gebrechlich, weil man die Zuschreibung über die Leiden des Alterns für sich annimmt.

Aber etwas kürzer treten, etwas langsamer arbeiten, und nicht so schwer, war eine gute Idee. Und wenn das jetzt mit dem Hinweis auf das Alter problemlos akzeptiert würde: Perfekt!

Michael hatte das Gefühl, dass man mit dem modernen Leben die „Bodenhaftung“ verlieren würde schon in seiner Studentenzeit, als eine Folge von Ölkrise, Sonntagsfahrverbot und die publizierten Erkenntnisse des Club of Rome. In der Studienzeit gelang schon mal ansatzweise ein Selbstversorgerleben auf dem Lande. Aber was danach kam, war ein bürgerliches Leben mit technischem Beruf für eine moderne Welt in rasendem Umbruch mit unbekanntem Ziel. Erst als die Ehe geschieden und die Kinder aus dem Haus waren, nahm er seine alten losen Enden wieder in die Hand. In der ehemaligen DDR gab es in ärmlichen Landfluchtgegenden günstig alte Häuser und noch günstiger Land, das für die ehemaligen LPGen, von der Treuhand abgewickelt, zu steil oder zu verwinkelt war, um mit einer Flotte an Großmaschinen bearbeitet werden zu können. Die hügeligen, bewaldeten, dünn besiedelten Mittelgebirgslandschaften Süd-Thüringens waren dafür geradezu ideal!
Die in DDR-Zeiten enteigneten Kleingrundbesitzer hatten ihr ehemaliges Eigentum zurückbekommen, aber die Bodenhaftung, den Bezug zu ihrem Stück Land längst verloren. Manchmal nahmen sie das Angebot an, so ein Grundstück zu verkaufen. War es nicht verpachtet und klein genug, konnte die LPG-Nachfolgerverwaltung in Michaels Fall die "Schmiedefelder Alm" rechtlich nichts dagegen tun.

Michael hatte einige Gemeinschaften und Ökodörfer besucht, an einigen Gründungsprozessen von solchen teilgenommen, viel Zeit in Arbeitskreise und endlose Debatten gesteckt, die aber letztlich an der Gruppendynamik, der mangelnden Bereitschaft der Interessenten, dem Geld und an den Behörden eines „widersetzlichen Staates“ gescheitert waren. Jetzt wollte er den Spieß umdrehen. Er kaufte sich mit den Früchten seines Berufslebens und den Mitteln, die seine Scheidung übrig gelassen hatte ein altes Haus mit einem guten Hektar Land drum herum und fing einfach an. Interessenten wurden eingeladen mitzumachen. Solche kamen und gingen. Der Aufbau von Selbstversorgerstrukturen wurden dadurch beschleunigt und unterstützt, waren aber letztlich nicht von der Gruppendynamik der Bewohner abhängig.

Das Netzwerk an ähnlich oder zumindest freundlich gesinnten Nachbarn und Dorfbewohnern wuchs und Michael förderte begeistert die Idee von Harald, Gertrud, Heinz und Anderen, ein Ökodorf zu gründen. Er würde da zwar nicht hinziehen, oder höchstens, wenn er seinen Hof an andere übergeben würde, was er sich aber derzeit noch gar nicht vorstellen konnte, aber an engen Beziehungen zum Dorf war er sehr interessiert. Die Idee von Tauschkreis, lokaler Währung, Betrieb eines Kurssystems, Entwicklung und Pflege von Selbstversorgertechniken waren auch seinen Ideen sehr verwandt.

Als Gernod auf dem Sauhügelhof eintraf, hatte Michael das Mähen wegen des schwindenden Taues eingestellt, ruhte sich auf einer Bank neben dem Geräteschuppen aus und genoss die Aussicht ins Tal und die umgebenden Hügel. Er hieß Gernod willkommen und bot ihm ein Glas des Waldmeister Kaltauszuges an, der in einer großen Glaskaraffe auf dem Tisch stand. Nach einigen freundlichen Belanglosigkeiten rückte Gernod mit seinem Interesse am Sensen heraus.
„Du hast ein größeres Stück Fläche gemäht heute morgen, fressen deine Schafe so viel pro Tag?“
Michael winkte ab: „Nein, die Schafe weiden ihr Gras schon selbst ab. Das gemähte Gras ist für Heu.“
Gernod erinnerte sich daran, dass Harald gesagt hatte: „Ist es nicht noch zu früh zum Heumachen?“

Michael erzählte ihm, dass der Grund für spätes Heumachen einerseits in der Masse und dem Gehalt an nahrhaften Samen liege, andererseits sollten die Gräser erst blühen und den Insekten als Weide dienen. Ausgestreute Samen erhalten die Artenvielfalt. Das hat im Zusammenhang mit der maschinellen Landwirtschaft seine Berechtigung. Die Wirtschaftlichkeit eines Hofes hängt davon ab, wie viel Futter zugekauft werden muss. Da wird in Nahrungsgehalte gerechnet. Die wichtigen Bestandteile aus früheren Stadien der Pflanzenentwicklung werden durch Zusatzfutter ausgeglichen. Die großen Maschinen mähen eine gewaltige Wiese in wenigen Stunden und die Heuwender und Rechen halten da locker mit. Das Einbringen mit automatischen Großballenpressen ist auch reine Maschinenarbeit und geht schnell. So reichen zwei sonnige Tage oft für die komplette Heuernte.

Aber bei ihm, erzählte er weiter, sähe das etwas anders aus. Ich muss die Ernte über mehrere Tage verteilen. Ich mache immer nur so viel auf einmal, wie ich gut schaffen kann. Mit der Sense mähen, mit dem Rechen Wenden, mit Säcken und Rückentragen das Heu in den Schober bringen, das braucht seine Zeit. So werden immer nur, in verschiedenen Reifestadien des Grases, kleinere Streifen der Wiese gemäht. So können alle Arten auf Teilen des Hofes in Samen gehen, und dies mit dem Wind verteilen, auch auf die schon gemähten Abschnitte. Es können sich in den zu verschiedenen Zeiten gemähten Streifen andere Gräser und Kräuter entwickeln, die in den ungemähten Abschnitten von den dominierenden Großgräsern erstickt würden. Das Mähen in verschiedenen Phasen, beginnend schon nach den ersten Blühern, aber auch das ganzjährige Stehen lassen von Blühstreifen fördert die Artenvielfalt in einer Wiese ganz erheblich, und auch des Volkes, das in ihr lebt, all das Getier und Gewürm.

Gernod wunderte sich: „Das künstliche Abmähen einer Wiese soll für mehr Artenvielfalt sorgen, als sie der Natur überlassen?“

Michael lachte: „Wenn man eine Wiese sich selbst überlässt, dann wir sie zum Wald. Hier in der Gegend ist die natürliche Vegetation der Wald. Die kräuterreichen Wiesen sind eine menschengemachte Kulturlandschaft. Wenn es genügend Wild gäbe, das wir abschießen – Hallali, es lebe die Jagd – und Rinderherden, dann würden sich schon einige Lichtungen halten, in denen die wachsenden Bäumchen verbissen werden, aber das hat weitgehend der Mensch übernommen und viel ausgedehnter, als die Natur das machen würde.
In den hügeligen maschinenunfreundlichen Gegenden wie hier oder auch in den Almen der Hochgebirge, werden Prämien bezahlt, um die vielbesungene Kulturlandschaft zu erhalten. Der Mensch hat so sehr eingegriffen in die nichtmenschliche Natur, dass er schon komplett verschwinden müsste, dass sich nach Jahrzehnten und Jahrhunderten ein neues Gleichgewicht bilden würde. Die Verbreitung verschiedener Arten würde sich neu einpendeln.“
Michael erklärte, dass es bei 8 Milliarden Menschen nicht darum gehen könne, keine Nahrung zu erzeugen und als Sammler und Wildbeuter zu leben, sondern dass man die Nahrung mit Maß und Ziel, Sinn und Verstand anbauen müsste. Und das wollen er und seine Mitstreiter versuchen.

Während er redete, hatte er mit einem Vierkantschlüssel den Bügel geöffnet, mit dem das Sensenblatt am Sensenbaum befestigt war. Der Dengelhammer lag auf dem Stück Baum, in dem der Dengelstock, eine Art Mini-Amboss – eingeschlagen war. Michael schickte sich an, die Sense zu dengeln.


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RE: Ökodorf "Eine Erde"

#17 von petias , 09.07.2024 10:11

Kapitel 16 Sense – Dengeln – Sensenschmied

... i, du und all meine Gspan, wer net guat dengeln kann, kann net guat mahn
(Johann Peter Hebel, aus ‚Gedichte‘ 1804, Volkslieder aus dem Kanton)



Michael saß auf einer ca. 60 cm hohem Baumscheibe. Vor ihm stand eine ca. 1 Meter hohe Baumscheibe, in die ein kleiner, etwas faustgroßer Ambos eingeschlagen war. Die Oberseite des Ambos, Dengelstock genannt, war leicht gewölbt. In der linken Hand hielt Michael das Sensenblatt. Dessen Spitze zeigte nach links, die Schneide war dem Dengler zugewandt. Das breitere, rechte Ende des Blattes lag flach mit der Schneide auf der Fläche des Dengelstockes. In der rechten Hand hielt Michael einen kleinen Hammer. Das Metallstück des Hammers, ca. 300 Gramm schwer, verjüngte sich an beiden Seiten und endete in einer leicht abgerundeten Kante. Der Hammer begann in langsamen Rhythmus auf die Schneide des Blattes herabzufallen. Dabei wurde das Metall des Sensenblattes so ausgedünnt, dass eine scharfe Schneide entstand. Millimeter für Millimeter rückten die Hammerschläge der Schneide entlang in Richtung Spitze des Sensenblattes vor. Ab und an unterbrach Michael kurz seinen Schlagrhythmus und prüfte mit dem Daumen die Schärfe des Blattes. Je nach Ergebnis der Prüfung kehrte er zu einer schon behandelten Stelle zurück oder setzte die Arbeit weiter in Richtung Spitze fort.
„Einige Schläge sind etwas weiter von der Kante entfernt, andere treffen genau auf die Kante. Ist das Absicht oder ist es einfach schwer, genau die Kante zu treffen?, fragte Gernod.
„Meistens ist es Absicht!“
Michael unterbrach die Arbeit kurz und hielt den Hammer genau an die Stellen, an die er beim Schlagen treffen wollte.
„Man macht zunächst das Metall kurz hinter der Schneide dünner und verjüngt dann das schon dünner gewordene Metall zu einer scharfen Schneide. Das ist die Idee beim Dengeln.“
Michael nahm die Arbeit wieder auf.
„Beim Wetzen mit dem Schleifstein hat man nur mit einer sehr dünnen Schneide Erfolg. Wird die Schneide stumpf, hilft nur noch dengeln. Cäsar berichtet in seinem <<De Bello Gallico>>, wie die Barbaren während er Schlacht sich am Rande hinsetzten, um ihre Schwerter zu dengeln. Sie hatten relativ weiches Eisen dafür verwendet“.

Nachdem das Sensenblatt gedengelt war, brachte es Michael wieder am Sensenbaum an. Er zeigt seinem Besucher, wie man den Winkel des Blattes zum Baum richtig einstellt. Das wäre wichtig für eine saubere Mahd, erklärte Michael. Er setzte das Ende des Sensenbaums auf seinen Fuß, so dass die Mitte des noch locker befestigten Sensenblattes vor einem Balken stand, der das Dach des Pavillons trug, in dem sie sich befanden. Dann bewegte er die Sense nach links, bis das Ende des Sensenblattes genau vor der Kante des Balkens stand. Er markierte die Stelle. Jetzt schenkte er die Sense nach rechts, bis die Spitze des Blattes vor der Balkenkante stand.
„Die Spitze des Blatts soll bei einem Blatt dieser Länge ca. zwei Finger breit unter der Markierung liegen“, erklärte Michael. „Dann ist es richtig, um Gras zu mähen. Sonst bleibt leicht ein Streifen stehen!“
„Um Gras zu mähen“?, fragte Gernot. „Was kann man den sonst noch so mähen?“
„Getreide zum Beispiel!“
Michael begann die Sense mit einem Wetzstein zu wetzen.
„Bei Getreide ist der Abstand mit etwa einer Handbreit richtig! Für mich zumindest. Man muss das immer entsprechend der Körpergröße und den Sensgewohnheiten einstellen. Der Winkel des Sensenblattes zum Boden ist auch von Bedeutung. Manche müssen kleine Keile in die Halterung des Blattes am Sensenbaum einfügen, damit der Winkel stimmt.

Gernod wunderte sich.
„Du machst den Wetzstein gar nicht nass. Das habe ich bei Harald so gesehen.“

„Nein“, antwortete Michael. „In der Regel nicht. Die Wetzsteine, die man heute so zu kaufen bekommt sind Trockenwetzsteine. Die muss man nicht anfeuchten. Dazu kommt, dass ich in der Regel bei Morgentau mähe. Da ist das Sensenblatt immer nass vom Tau. Ich benutze keinen wassergefüllten Köcher für den Wetzstein, wie das die Alten gemacht haben.“


Es waren ein paar interessante und angenehme Stunden gewesen, die Gernod bei Michael verbracht hatte. Über das Schmieden von Sensen hatte Michael auch nicht viel gewusst. Er hatte ihm von ein paar Museen erzählt, in denen man darüber erfahren könnte.
Da gab es eines in Aachen, im Freilichtmuseum in Hagen konnte man eine Sensenschmiede mit Wasseread-Antrieb sehen, in Micheldorf in Oberösterreich gibt es ein Sensenschmiedemuseum, in Walsheim im Bliesgau gibt es eine aktive Sensenwerkstatt, in der der Fortbestand des Handwerks gesichert werden soll.

Gernod bekam Lust zu einer kleinen Reise. Aber er und das Ökodorf würden davon nicht allzu viel profitieren, wenn er sich nicht qualifizierte Unterstützung besorgte. Er wollte Bernd den Schmied mit ins Boot holen. Er stellt sich vor, wie das Ökodorf „Eine Erde“ sich zu einem Zentrum der Sensen-Schmiedekunst entwickeln würde. Das passte gut zu einer anderen Idee, die er hatte über die Zukunft der „Neuen Welt“, an der er mitarbeiten wollte. Jede Gemeinschaft versorgt sich mit den wichtigsten Gütern selbst, soweit möglich. Aber bestimmte Sachen, die etwas mehr Aufwand, Wissen und Fertigkeit verlangten oder auch regionale Besonderheit, wie z.B. das Vorhandensein von Rohstoffen, könnten in nur wenigen Gemeinschaften erzeugt oder gepflegt werden.
Er erinnerte sich an ein Büchlein, das er mal gelesen hatte. „Wie immer auf der Suche nach einer technischen Lösung“ war der Titel. Das war eine Science-Fiction Story aus dem Jahr 1975. Eher eine Öko-Fiction Geschichte. Da war ein kleiner Teil der noch nicht allzu degenerierten Menschen von der sterbenden Erde auf einen erdähnlichen Planeten geflohen um eine neue Kultur aufzubauen. Ein wichtiger Gedanke war, die Spezialisierung der Menschen auf ganz wenige und kleine Bereiche zu vermeiden, weil es dadurch zu Entfremdung von der Natur und der menschlichen Basis käme. Man verliert die Bodenhaftung, wie sie in „Eine Erde“ zu sagen pflegten. Da wurde z.B. von einem Hochofen berichtet, in dem Stahl gekocht wurde. Der wurde von einer Dorfgemeinschaft betrieben, aber alle anderen Gemeinschaften schickten immer wieder für eine Zeit Mitglieder dahin um mitzuarbeiten und das „Gewusst Wie“ zu erwerben, so dass das Wissen nicht missbraucht werden konnte.
Warum sollte „Eine Erde“ nicht so ein Zentrum für Sensen-Wissen werden.
Auf seinem Weg zu Bernd, dem Schmied, der seine Werkstatt im alten Schulgarten hatte, kreuzte Thomas, der Ökobauer seinen Pfad mit einem Traktor mit angebautem Kreiselmähwerk. Er war auf dem Weg, eine Wiese zur Heugewinnung zu mähen.

Literaturnachweis: Wie immer auf der Suche nach einer technischen Lösung


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Ökodorf "Eine Erde"

#18 von petias , 15.07.2024 10:27

Kapitel 17 Diplomatie


Vielleicht

Sage nie: Dann soll’s geschehen!
Öffne dir ein Hinterpförtchen
Durch »Vielleicht«, das nette Wörtchen,
Oder sag: Ich will mal sehen!

Denk an des Geschickes Walten.
Wie die Schiffer auf den Plänen
Ihrer Fahrten stets erwähnen:
Wind und Wetter vorbehalten!
(Wilhelm Busch)




Die Kommunalwahlen im Mai hatten die Gemeinde Neuhaus am Rennweg, innerhalb deren Grenzen das Ökodorf liegt nicht so hart getroffen wie z.B. die Kreisstadt Sonneberg.
In Neuhaus hatte die AfD 5 Sitze im 20-köpfigen Stadtrat gewonnen. In Sonneberg waren es 10 von 20 Sitzen.
Es gab Vorabsprachen mit den örtlichen Politkern, das Ökodorf betreffend, sonst hätte es wenig Sinn gehabt, das Projekt überhaupt zu starten. Mittlerweile war der Verein: "Ökodorf 'Eine Erde' e.V." gegründet und in das Vereinsregister eingetragen worden. Um wie geplant funktionieren zu können, brauchte der Verein Sonderrechte besonders im Bereich des Bau-, Wohn- und Melderechtes. Der Stand der Verhandlungen vor der Wahl mit den damaligen Gemeinderatsmitgliedern signalisierte grünes Licht für die „Ferienhaussiedlung“. Die ehemalige Ferienhaussiedlung durfte um neue Häuschen mit Gärten, einer Höhlensiedlung, einer Wagenburg sowie einer „Hobbit“-Haussiedlung erweitert werden. Die Gemeinschaftsgebäude waren z.T. bereits genehmigt. Künftige Erweiterungen bedurften neuer Genehmigungsverfahren. Aus Sicht der Stadt handelte es sich bei dem Projekt um eine Mischung aus Kleingartenanlage, wie es sie in alter DDR-Tradition hier zuhauf gab und einer Ferienhaussiedlung mit umfangreichem Programm für die Gäste und einem Campingplatz für Dauercamper. Der Betreiber der Anlage ist der Verein. Offen war die Frage nach dem Recht, die Örtlichkeit als Hauptwohnsitz zu nutzen.
Das Bundesmeldegesetz (BMG) erkennt in § 20 auch einen Wohnwagen als Wohnung an. Vorausgesetzt, er wird nicht oder nur gelegentlich fortbewegt.

Als Hauptwohnung gilt laut BMG zudem die Wohnung, die der Einwohner vorwiegend benutzt. Wenn Sie Ihren Erstwohnsitz auf einem Campingplatz anmelden wollen, spricht laut BMG also nichts dagegen.
Der Inhaber des Campingplatzes muss der Anmeldung allerdings zustimmen. Das wäre im Falle des Ökodorfes kein Problem, denn der Inhaber ist der Verein "Ökodorf 'Eine Erde' e.V.".

Seit 2018 ist das Wohnen auf dem Campingplatz auch mit dem Baurecht vereinbar, wenn die Gemeinde das fragliche Gelände als geeignet ausweiset. Somit bleibt das „Wohnen auf dem Campingplatz“ eine Einzelfallentscheidung.

In den USA leben 20 Millionen in einem „Trailerpark“
Aber auch in Thüringen gibt es durchaus prominente Beispiele für Dauercampen mit Hauptwohnsitz auf dem Campingplatz. So gibt es einen Campingplatz am Stausee Hohenfelden nähe Erfurt mit 560 Stellplätzen. 450 davon sind Dauercampingplätze. Ob die Platzverwaltung die Zustimmung zum Hauptwohnsitz erteilt, hängt z.B. davon ab, ob es einen freien Briefkasten in der Briefkastenanlage des Platzes gibt. Auf diesem Platz ist allerdings jeglicher Anbau von Obst und Gemüse untersagt.

Für das Ökodorf kommt dazu, dass es neben den Wohnungen auch noch Kleingewerbe gibt. Alles kein Problem, aber es bedarf der Zustimmung der Gemeindeverwaltung.

Es ist generell eine gute Idee, sich mit den lokalen Politikern gut zu stellen. Im Falle des Ökodorfes war es existenziell.

Heinz pflegte deshalb aktiv Kontakt zu Bürgermeister, Stadtteilbürgermeister und den Gemeinderatsmitgliedern. Die meisten kannte er längst, denn weder die Stadt Neuhaus erst recht nicht der Ortsteil, in dem das Ökodorf lag, waren besonders groß und Heinz war hier geboren. Im Bedarfsfall stellten seine Eltern Thomas und Elfriede als Großbauern und Nachfolger der ehemaligen LPG hoch angesehen, den Kontakt her, wenn z.B. die fraglichen Politiker schon etwas älter waren.

Für heute hatte er besonders die neuen Mitglieder des Gemeinderates, zwei Mitglieder der AfD und zwei Mitglieder der FWR (Freie Wählergemeinschaft Rennsteig) zu einer Besichtigung des Ökodorfes eingeladen. Den anderen Gemeinderatsmitgliedern stand es frei zu kommen, aber die kannten das Projekt schon aus früheren Besuchen.

Tatsächlich kamen nur Giesbert und Roland von der AfD und Helmut von der FWR. Heinz führte sie zunächst in die Schule und bot ihnen was zu trinken an. Sie besuchten die Schmiede auf dem Gelände und gingen dann noch zur neuen Versammlungshalle, die sich noch im Bau befand. Die Balken-Konstruktion, ausgefacht mit Strohballen war durchaus sehenswert. Roland murmelte etwas von einheimischen traditionellen Baumaterialien aber von unkonventioneller Bauweise. Helmut interessierte sich dafür, wo denn das Stroh herkommen würde, da es in der unmittelbaren Umgebung gar keinen Getreideanbau geben würde.

„Die Ballen kommen aus dem Raum Saalfeld, Halle an der Saale, gar nicht weit von hier“. Heinz beantwortete die Fragen gern. „Übrigens, werden wir hier auch Getreide anbauen. Wir haben mit Johannisroggen, ein sehr ursprünglicher kleinkörniger Winterroggen angefangen. Wir Haben ihn zusammen mit Erbsen gesät. Die können noch im Herbst geerntet werden. Der Roggen überwintert dann und reift nächstes Jahr aus.“
„Sät man Wintergetreide nicht erst im Herbst?“, fragte Giesbert skeptisch.
„Stimmt“, nickte Heinz ihm zu. „Der Johannisroggen ist aber was Besonderes. Er heißt so, weil man ihm um den Johannistag herum, der bekanntlich auf den 24 Juni fällt, bereits ausbringt. Der kann im Herbst sogar noch abgeweidet werden und kommt im Frühjahr wieder.“

Man besichtigte das Sanitärgebäude, und die angeschlossene Biogasanlage. Besonders interessant fanden die Gäste die Zwischenstufe zur Salpetergewinnung aus dem Urin.

Das wiederaufgebaute alte Gewächshaus der Dorfgärtnerei fand allgemeinen Anklang und auch der Biomeiler zu seiner Beheizung, der mittlerweile aber Sommerpause hatte. Jetzt musste eher gekühlt werden durch Abschattung der Glasflächen, als beheizt.

Kontroverser wurde das lokale Geld diskutiert. Roland wollte überhaupt nicht einsehen, warum man denn eigenes Geld drucken müsste. Interessanterweise war es Giesbert, der darauf hin wies, dass in Teilen der AfD die Abschaffung des Euros und die Wiedereinführung der DM gefordert wurde.
„Aber das ist keine DM!“, beharrte Roland.
„Stimmt“, pflichtete ihm Heinz bei. „Tatsächlich ist das gar kein Geld. Geld ist derzeit ein Hoheitsrecht des Staates. Wir haben nur eine Art Gutscheinsystem geschaffen, mit dem wir und umliegende Geschäftsleute und Privatpersonen arbeiten. Das sorgt dafür, dass das ‚Geld‘ in der Region bleibt. Wenn Leute mit ‚Eine-Erde-Talern‘ - umgangssprachlich - ‚Erdtalern‘ bezahlt werden, sind sie leichter bereit sie da auszugeben, wo die angenommen werden, statt auf die Raiffeisenbank in Neuhaus zu gehen, und sie mit Verlust umzutauschen. Es ist sozusagen ein Förderprojekt für die lokale Wirtschaft. Wir denken in der Hinsicht nicht national, sondern lokal!“

Roland bemängelte die Kleinheit der Wohneinheiten, für die man sogar eine Genehmigung als Hauptwohnsitz bekommen sollte. Heinz erklärte, dass man Häuser und Bauwagen eher als eine Art Zimmer betrachten sollte, Küche, Bad und Wohnzimmer wären die Gemeinschaftseinrichtungen. Zudem wolle man bewusst bescheiden leben und einen kleinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen.

„Das ist doch alles nur grüne Propaganda!“, schimpfte Roland. „Was nützt es denn, wenn wir hier anfangen, und China und die USA machen nicht mit!“

Heinz versuchte eine vermutlich recht fruchtlose Diskussion zu dem Thema zu vermeiden. Er sagte lächelnd: „na, zumindest schaden kann es nichts! Und wir tun es freiwillig!“
Wie befürchtet legte Roland nach, und bemerkte bedeutungsschwanger, dass es hier doch so einige Ausländer gäbe.
„Was noch völlig legal ist“, bemerkte Giesbert. „Wenn sich die Gesetze ändern sollten, dann wird man sich auch hier daran halten, nicht wahr Heinz?“
Heinz murmelte etwas von: „natürlich halten wir uns an Gesetze. Zumindest sind unserer Ausländer perfekt integriert!“, setzte er noch kleinlaut hinzu.

Die Führung dauerte eine gute Stunde, dann zogen die Besucher wieder ab. Die anderen beiden waren schon abgefahren, da sprach Giesbert beim Einsteigen in sein Auto Heinz nochmal an.
„Nicht alle AfD-ler sind verbohrte Nationalisten. Ich finde ganz gut, was ihr macht. Lokal ist nicht global. Und unter uns: der Zug zum globalen und internationalen lässt sich nicht lange aufhalten.“

„Warum bist Du denn dann in der AfD?“, konnte es Heinz sich nicht verkneifen zu fragen.
„Die brauchen jetzt jeden, der einen brauchbaren Eindruck macht. Nie war es so leicht, in Amt und Würden zu kommen. Parteien werden vom Steuerzahler großzügig unterstützt!“
Giesbert blinzelte Heinz noch zu, während er gemütlich vom Gelände fuhr.


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