Ken Wilber – Naturwissenschaft und Religion
Die Versöhnung von Wissen und Weisheit
Seit meiner OP muss ich mit körperlicher Arbeit etwas aufpassen, soll vier bis sechs Wochen (was für eine Aussage, was nun?) nichts heben, was mehr als 5 Kg wiegt. Das gilt vermutlich auch für Drücken oder Schieben etc.
Also mehr Zeit zum Lesen!
Da fiel mir das Angebot für ein „Mängelexemplar“ eines Buches von Ken Wilber - erschienen im Fischerverlag - in die Hände.
4,99 € für knapp 300 Seiten Philosophie. Ich griff zu.
Der Mangel war ein kleiner Schnitt im rückwärtigen Umschlag, vermutlich durch das Aufschneiden von Bücherkartons verursacht. Kein Problem.
Ken Wilber ist mein Lieblingsphilosoph. Vor allem deshalb, weil er so ordentlich ist, alles einordnet und zu integrieren versucht, was so in der Welt (nicht nur der Philosophie) passiert. Mir hilft das, mich schnell orientieren zu können, ohne alles selbst lesen zu müssen.
Die Integration von Wissen und Weisheit, bzw. von Wissenschaft und Spiritualität interessiert mich sehr und beeinflusst mein Denken und Schreiben.
Ken Wilber ist 1947 geboren und lebt in Boulder Colorado. Er gilt als der wichtigste Vertreter der „Transpersonalen Psychologie“ und gehört zu den bedeutendsten Vertretern eines integralen Weltbildes.
Er hat sehr viel veröffentlicht. Einige seiner bekanntesten Werke sind: „Eine kurze Geschichte des Kosmos“, „Halbzeit der Evolution“, „Einfach Das“, „Eros, Kosmos, Logos“, „Das Wahre, Schöne, Gute“, „Mut und Gnade“.
Das bekannteste Buch ist wohl „Mut und Gnade“, in dem er das Leben mit seiner Frau beschreibt, die kurz nach der Hochzeit eine Krebsdiagnose erhält. Es folgen Jahre des Kampfes, der Hoffnung und der Niederlagen, die letztlich mit ihrem Tod enden. Ich fand es sehr interessant, wie sie – beides Buddhisten - damit umgegangen sind. Tatsächlich hat das Buch meine Hoffnung gedämpft, durch Meditation besser mit dem Sterben umgehen zu können.
Wenn man den Beginn der modernen Wissenschaft mit einer Jahreszahl versehen möchte, so könnte man z.B. das Jahr 1600 nehmen, das Jahr in dem Keppler und Galilei ihre Versuche und Überlegungen begannen.
Die Domäne der Wissenschaft ist Wahrheit, nicht Weisheit. Der Mensch sucht neben Wissen auch Sinn, Wert, Tiefe, Zuwendung, Würde und Bedeutsamkeit.
Fakten bedürfen einer Bewertung, die Wahrheit allein ist nichts. Was fange ich mit ihr an? Die Wissenschaft braucht Religion bzw. Philosophie, um sie zu relativieren.
Fakten - Sinn, Bedeutung
Wahrheit – Weisheit
Wissenschaft – Religion, Philosophie
Bisher war, so unterschiedlich die verschiedenen Kulturen, Religionen und Mythen auch sein mögen, in allen die Große Kette des Seins auf irgendeine Weise enthalten.
Huston Smith, eine Größe der vergleichenden Religionswissenschaften schreibt in seinem Buch:“Forgotten Truth“:
„Alle Religionen glauben an die Große Kette des Seins: Die Wirklichkeit ist ein reiches Gewebe ineinandergreifender Ebenen, die vom Stoff (Materie) über den Körper und den Geist (Verstand) zur Seele und zum GEIST (Gott) reichen. Alles ist mit allem verwoben und letztlich im GEIST eingefaltet.“
Der GEIST transzendiert und schleißt die Seele ein, die den Geist, dieser den Vitalkörper, dieser den Stoff.
Leben – Biologie
Geist – Psychologie
Seele – Theologie
GEIST – Mystik
Die Wirklichkeit ist eine Aufeinanderfolge von Schachteln (boxes) in Schachteln in Schachteln.
Der animalische Vitalkörper ist auf Materie aufgebaut, aber umfasst auch Gefühle, Empfindungen, die in Steinen nicht gefunden werden. Der menschliche Geist besitzt neben psychischen Emotionen auch kognitive Elemente wie Verstand und Logik, die man bei Pflanzen und Tieren nicht findet.
Die Seele trägt den Geist in sich, aber auch archetypische Erleuchtung und Visionen, die man im Rationalen nicht findet.
Jede höhere Ebene transzendiert die niedrigere und schließt sie ein. Dies ist das Rückgrat der „Philosophia Perennis“, der ewigen Philosophie, die sich durch alle Zeitalter und Kulturen zieht.
Mit der Aufklärung wurde die „Große Kette des Seins“ durch eine „Flachland“- Auffassung der Welt ersetzt, die die Erkundung der Materie zur offiziellen Philosophie macht.
Was die Aufklärung mit sich bringt, nennt man die „Moderne“.
In der Zeit davor, der „Prämoderne“ waren Kultur, Kunst, Ethik, Wissenschaft usw. undifferenziert.
Wenn Keppler durch sein Fernrohr blickte, sah quasi der Papst mit durch und bewertete aus moraltheologischer Sicht was zu sehen war.
Die „Würde der Moderne“ war es, die hier eine Differenzierung (Trennung) der einzelnen Bereiche durchführte. Zu dieser Würde gehören Freiheit, Demokratie, Rechtstaat, unabhängige Forschung, unabhängige Kunst. (Die Entwicklungen laufen auch nebeneinander. Ich erinnere an die „Entartete Kunst“ unter den Nazis oder das Todesurteil der Islamisten gegen Salman Rushdi im Zusammenhang mit seinen „Satanischen Fersen“ und den Mohamed-Karikaturen.)
Aber die Differenzierung artete zur Dissoziierung (übertriebenen Differenzierung, Vereinzelung, Zerschlagung von Zusammenhängen) aus.
Die Wissenschaft riss das Zepter an sich und entzog allen nichtmateriellen Aspekten des Lebens ihre Berechtigung und Bedeutung. Die Wissenschaft wurde zum „Szientismus“ (Wissenschaft als Heilslehre)
Die Dissoziierung führte zur Bedrohung von Natur einschließlich des Menschen. Eine moralische Kontrolle ein Richtig und Falsch gab es nicht mehr.
Die Große Kette des (menschlichen) Seins war zerbrochen!
Die Wissenschaft (Auge des Fleisches) betrachtete die anderen menschlichen Ebenen Ratio (Auge des Geistes) und Mystik (Auge der Kontemplation) mit ihren eigenen Methoden und wurde ihnen damit nicht gerecht. Jede Kategorie hat ihre eigenen Gesetze und Methoden und wer Kategorien mit den Gesetzen und Methoden einer anderen Kategorie bewertet, begeht einen kategorischen Irrtum, eine Kategorie Verwechslung.
Gilbert Ryle: Der Versuch den GEIST (Gott) wissenschaftlich zu begründen ist eine Kategorieverwechslung und zum Scheitern verurteilt.
Postmoderne
Unter „Postmoderne“ versteht man verschiedene Reaktionen auf die Dissoziierung der Moderne.
Sie ist ein Versuch:
Die Kunst - Die Ethik – Die Wissenschaft
Das Schöne – Das Gute – Das Wahre
Ich – Wir – Es
Zu integrieren.
Romantik
Die Romantik verwechselte „prä“ und „trans“
Prärational – Rational – Transrational
Präpersonal – Personal – Transpersonal
Um den Problemen der Dissoziierung zu entgehen, flüchtete man sich gedanklich in eine Zeit vor der Differenzierung. Man verwarf die Würde der Moderne zusammen mit der Dissoziierung der Modernen, indem man die Zeit zurückdrehen wollte an eine Stelle der menschlichen Entwicklung, die man für perfekt hielt.
Z.B. die Matriarchalen Gesellschaften aus der frühen Sesshaftigkeit der Menschheit, bevor es Pflüge und anderes schweres Gerät zur Feldbestellung gab.
Aber in der Zeit als noch hauptsächlich der Grabstock eingesetzt wurde, den Frauen problemlos bedienen konnten, gab es trotzdem Kriege, den Brautpreis (Symbol für Geringschätzung der Frau), Sklaverei. Ohne die Würde der Moderne (Aufklärung) bleibt eine archaische Grabstock- Kultur romantische Schwärmerei.
Dasselbe gilt für die Jäger und Sammlergesellschaften davor. Noch weiter davor gab es noch nicht den Menschen! Zurück zu den Affen?
Idealismus
Die Idee schafft die Wirklichkeit. Die Welt ist eine Schöpfung des GEISTES. Die führenden Vertreter waren Schelling und Hegel
GEIST ist grundlegende Wirklichkeit. Um die Welt zu erschaffen, vergisst er seiner selbst und entleert sich in die Schöpfung. Mit dem Sturz in die materielle Welt beginnt der GEIST, immer und überall präsent, den Prozess der Rückkehr zu sich selbst. Das ist die Evolution. Ihr geht der Abstieg, die Involution voraus. Der GEIST vergisst sich.
Von der Natur über die Menschheit zur Gottheit.
Natur – Menschheit - Gottheit
Unbewusst – selbstbewusst - überbewusst
Präpersonal – personal – transpersonal
GEIST ist der Prozess seiner eignen Selbstverwirklichung.
Sein Sein ist sein Werden
Sein Ziel ist der Weg
Erst wenn, sei's Teilchen oder Welle,
an jeder kleinsten Kosmos Stelle,
der Geist sich gänzlich breit gemacht,
ist die Evolution vollbracht.
Und wieder: der Urknall reißt das All in Fetzen,
der GEIST vergisst, wer er mal war,
muss wieder alles neu durchsetzen,
auf alle Zeiten, immerdar!
Nach den neuen Erkenntnissen durch Wilbers Buch, muss ich die Schreibung von Geist und GEIST etwas anpassen.
Prärationale Natur – Auge des Fleisches
rationaler Geist – Auge des Verstandes
transrationaler GEIST – Auge der Kontemplation
Die Grenzen des Idealismus, schreibt Wilber, der sich ihm durchaus verbunden fühlt, liegen darin, dass er kein Verfahren hat, transpersonale und transrationale Erkenntnisse zuverlässig reproduzierbar zu machen. Der Idealismus kannte keinen Weg der Erkenntnis, hatte keinen Yoga.
Da spricht der Buddhist!
Postmoderner Poststrukturalismus
Es gibt nur Interpretation, keine Wahrheit. Hier wird die Wissenschaft, die nur das Äußere, die Materie anerkennt, ins Gegenteil verkehrt. Es gibt nur das Innere. Alles Äußere ist Illusion und Interpretation. Wir schaffen uns unsere Welt durch unsere Gedanken. Wir hängen in einer Matrix fest, alles was wir erleben ist nur ein Film…
Die Theorie: es gibt keine Wahrheit nur Illusion und Interpretation hat einen interessanten Aspekt: Ist sie wahr – ist sie falsch!
Wenn die Aussage es gibt keine Wahrheit (die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters) wahr ist, so ist sie falsch. Denn etwas Wahres gibt es dann ja nicht!
Lösung
Wie kann man also die Wissenschaft (der Moderne) mit der Weisheit, der großen Kette des Seins, verbinden?
Wilber fordert die Wissenschaft auf, zu ihren Prinzipien auch hinsichtlich der spirituellen Erfahrung zu stehen.
Wissenschaftliche Prinzipien:
1. Instrumentelle Injunktion
Wenn du dies wissen, erfahren, nachvollziehen willst, tue das…
eine Versuchsanleitung
2. Die Wahrnehmung. Der Versuchende folgt der Anleitung und sieht was passiert
3. Gesellschaftliche Bestätigung oder Widerlegung
Haben, wie in der Forschung üblich, andere Wissenschaftler die Anleitung nachvollzogen und die Ergebnisse bzw. die Erfahrungen bestätigt erfolgt die wissenschaftliche Anerkennung. Wenn nicht, die Ablehnung
Diese Prinzipien kann man auch auf die Kontemplation anwenden.
Die Religionen fordert er auf, allen Ballast abzuwerfen und sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren, die Spirituelle Erfahrung.
Dazu müssen sie dem, der sie nachvollziehen möchte, eine klare nachvollziehbare Anleitung geben.
Jeder, der sich ernsthaft nach Anleitung darum bemüht, muss diese spirituelle Erfahrung machen können.
Yoga, Zazen, Shikantaza, Satsanga, kontemplatives Gebet, Dhikr, Daven, Tiji – dies ist nichts, woran man glaubt, dies sind Injunktionen, Praktiken, Paradigmen.
ZEN, so Wilber, und die großen kontemplativen Traditionen sind daher in jedem Sinne des Wortes eine tiefe Wissenschaft des spirituellen Inneren.
Ich finde die Integrationsversuche eines Ken Wilber, dem Buddhisten und Philosophen von Anfang an, seit ich mich mit ihm beschäftige, faszinierend. Allerdings endet sein Evolutionsbegriff mit dem Menschen, dessen nächste Transformationsstufe direkt der GEIST ist. Die große Kette des Seins ist eine Kette des menschlichen Seins. Daraus spricht die menschliche Arroganz, die sich besonders in den Religionen ausdrückt: So schuf Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Welche eine grandiose Selbstüberschätzung!
War organische Natur
eine Episode nur,
um den unbelebten Dingen,
nach PLAN den Intellekt zu bringen?
Roboter ins All entschwinden
so weit, wie die Materie reicht,
zu einem Netzwerk sich verbinden,
dem nichts Dagewesenes gleicht.
Jedoch, auch das ist nicht das Ende,
nur Anfang einer neuen Wende,
die Maschinenintelligenz
wechselt wieder die Präsenz,
sich eine Stufe weiter hebt,
sich aufs neue transzendiert,
noch immer nicht am Ende steht,
wieder Neues ausprobiert.
Ich bezweifle sehr, dass die Große Kette des Seins eine Kette menschlichen Seins ist.